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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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er brauche noch ein paar Minuten, aber die Männer, die ihn begleitet hatten, kannten keine Nachsicht. Einer von ihnen versetzte ihm einen Stoß, der seine Hände löste, und als er aus der Kutsche stolperte, trat er versehentlich auf den Saum seines Dhotis, der sich daraufhin öffnete. Schamrot riss er seine Arme los, um ihn wieder zuzubinden. »Moment, Moment, mein Dhoti – seht ihr nicht … ?«
    Nil wurde nun einem neuen Trupp Gefängniswärter übergeben, Männern eines ganz anderen Schlags als ihre Kollegen in Lalbazar, hartgesottenen Veteranen aus den Feldzügen der Ostindien-Kompanie, die die Uniformjacke der Sepoy-Armee trugen. Sie stammten aus dem tiefsten Hinterland und hatten für die Stadtbewohner nur Verachtung übrig. Eher überrascht als wütend stieß einer von ihnen Nil das Knie ins Kreuz. »Los, beweg dich, bhenchod , es ist schon spät …«
    Diese ungewohnte Behandlung verwirrte Nil so sehr, das er zunächst an einen Irrtum glaubte. Noch immer mit seinem Dhoti kämpfend, protestierte er: »Halt! So können Sie mich nicht behandeln. Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?«
    Die Hände, die ihn ergriffen hatten, hielten einen Moment
inne, dann packte jemand das Ende seines Dhotis und zog mit einem scharfen Ruck daran. Der Stoff wickelte sich ab und wirbelte ihn dabei herum.
    »Was haben wir denn da?«, sagte einer der Männer. »Das ist ja eine richtige Draupadi! Klammert sich an ihren Sari …«
    Eine andere Hand griff nach Nils kurtā und zerriss ihn, sodass seine Unterwäsche zum Vorschein kam.
    »Eher ein, wenn du mich fragst …«
    Ein Lanzenschaft traf ihn ins Kreuz, und er taumelte durch einen dunklen Vorraum, die Enden seines Dhotis hinter sich herziehend wie den ausgebleichten Schwanz eines toten Pfaus. Sie kamen in einen von Fackeln erhellten Raum, in dem ein Weißer an einem Schreibtisch saß. Er trug die Uniform eines Gefängniswachtmeisters und war sichtlich ungeduldig; offenbar hatte er geraume Zeit hier gewartet.
    Nil war erleichtert, nun einen Vertreter der Obrigkeit vor sich zu haben. »Sir!«, sagte er. »Ich muss gegen diese Behandlung protestieren. Ihre Leute haben nicht das Recht, mich zu schlagen oder mir die Kleider vom Leib zu reißen.«
    Der Wachtmeister sah auf, und sein starrer Blick verriet eine Ungläubigkeit, die nicht größer hätte sein können, wenn eine der Ketten an der Wand gesprochen hätte. Dann aber wurde deutlich, dass nicht Nils Worte seine Reaktion hervorgerufen hatten, sondern die bloße Tatsache, dass er von einem indischen Sträfling in seiner eigenen Sprache angeredet wurde. Ohne ein Wort zu Nil wandte er sich an die Sepoys, die ihn hereingeführt hatten, und sagte in gebrochenem Hindustani: »Macht seinen Mund auf.«
    Die Wachen links und rechts von Nil fassten ihn daraufhin am Kopf, öffneten fachmännisch seinen Mund und schoben ihm einen Holzkeil zwischen die Zähne. Dann trat ein Sanitäter in einer weißen Jacke vor ihn hin und zählte seine
Zähne, die er dabei mit der Fingerspitze antippte. Ein Geruch nach Linsen und Senföl stieg Nil in die Nase, als hätte der Mann noch die Reste seiner letzten Mahlzeit unter den Nägeln. Sein Finger traf auf eine Lücke und grub sich in Nils Kiefer, als könnte sich der fehlende Backenzahn dort irgendwo verbergen. Der unerwartete Schmerz rief Nil den Moment in Erinnerung, als er den Zahn verloren hatte. Wie alt er damals gewesen war, wusste er nicht mehr, aber er sah wieder die sonnenbeschienene Veranda vor sich, an deren Ende seine Mutter auf einer Schaukel saß; er sah, wie seine Füße ihn zu der scharfen Kante der Schaukel trugen … und fast war ihm, als könne er wieder die Stimme seiner Mutter hören und ihre Finger spüren, die in seinen Mund fassten und den abgebrochenen Zahn herausholten.
    »Warum ist das nötig, Sir?«, protestierte er, nachdem der Keil wieder herausgenommen worden war. »Wozu das alles?«
    Der Wachtmeister sah nicht von seinem Register auf, in das er das Ergebnis der Untersuchung eintrug, aber der Sanitäter flüsterte Nil etwas von besonderen Merkmalen und Anzeichen ansteckender Krankheiten zu. Doch das genügte Nil nicht; er war entschlossen, sich nun nicht länger ignorieren zu lassen. »Bitte, Sir, gibt es einen Grund, warum ich keine Antwort auf meine Frage bekomme?«
    Ohne ihn auch nur anzusehen, gab der Wachtmeister erneut einen Befehl auf Hindustani: »Zieht ihn aus.«
    Die Sepoys drückten Nil die Arme an die Seiten. Jahrelange Übung hatte sie zu Experten im

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