Das mohnrote Meer - Roman
Ausziehen von Sträflingen gemacht, von denen viele lieber gestorben – oder getötet worden – wären, als sich in ihrer Nacktheit zu zeigen. Nils Widerstand bereitete ihnen keinerlei Schwierigkeiten, und im Nu hatten sie ihn vollends entblößt. Dann hielten sie ihn, aufrecht stehend, in einer Weise fest, dass sein nackter Körper den
prüfenden Blicken der Männer ringsum vollständig preisgegeben war. Plötzlich spürte er eine Berührung an den Zehen, und als er hinunterschaute, sah er, dass der Sanitäter mit den Fingerspitzen über seine Füße strich, als wollte er ihn für das, was er nun tun musste, um Verzeihung bitten. Nil hatte kaum Zeit, diese so überraschend menschliche Geste zu erfassen, da gruben sich die Finger des Mannes schon in seine Leistengegend.
»Läuse? Filzläuse? Sonstiges Ungeziefer?«
»Nein, Sahib.«
»Muttermale? Narben?«
»Nein.«
Die Berührung des Sanitäters fühlte sich an, wie Nil es nie zwischen zwei Menschen für möglich gehalten hätte: weder intim noch zornig, weder zärtlich noch lasziv. Es war die neutrale Berührung von Überlegenheit, von Erwerb oder Eroberung; es war, als sei sein Körper in das Eigentum eines neuen Besitzers übergegangen, der ihn taxierte, wie man ein neu erworbenes Haus auf Anzeichen von Verwahrlosung oder Baufälligkeit hin inspiziert, während man die Räume im Kopf bereits ihrer neuen Zweckbestimmung zuführt.
»Syphilis? Gonorrhö?«
Es waren die ersten englischen Worte des Wachtmeisters, und er sah Nil dabei mit einem kaum merklichen Lächeln an.
Nil stand nun mit gespreizten Beinen und hoch gereckten Armen da und wurde von dem Sanitäter auf Muttermale und sonstige unveränderliche Kennzeichen untersucht. Der Spott im Blick des Beamten war ihm jedoch nicht entgangen, und er reagierte schnell. »Sir«, sagte er, »können Sie mich nicht einer Antwort würdigen? Oder trauen Sie Ihrem Englisch nicht?«
Es flackerte in den Augen des Wachtmeisters, und Nil sah,
dass er ihn gereizt hatte, schon allein dadurch, dass er ihn auf Englisch ansprach, was bei einem indischen Häftling offenbar als Akt nicht hinnehmbarer Anmaßung, eine Entweihung der Sprache betrachtet wurde. Dass Nil – selbst in seinem gegenwärtigen Zustand, splitternackt und unfähig, sich gegen die Hände zu wehren, die eine Bestandsaufnahme seines Körpers vornahmen – dennoch imstande war, einen Mann zu brüskieren, dem er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war: Dieses Wissen ließ ihn insgeheim frohlocken und machte ihn schwindlig, begierig darauf, diese neuen Gefilde der Macht zu erkunden. Hier im Gefängnis, beschloss er, und in seinem ganzen übrigen Leben als Gefangener würde er Englisch sprechen, wann immer es ging, wo immer es ging, und hier und jetzt würde er damit anfangen. Doch so dringend war sein Wunsch, dass ihm die Worte fehlten und ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können, nichts Eigenes zumindest, nur Stellen aus Texten, die er einmal hatte auswendig lernen müssen:
»Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, dass … wir die Schuld unsrer Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne schieben …«
Der Wachtmeister unterbrach ihn mit einem zornigen Befehl: »Beugt ihn vor … untersucht seinen Arsch …«
Den Kopf zwischen den Beinen, fuhr Nil dennoch fort: »… der Mensch, der stolze Mensch, in kleine, kurze Majestät gekleidet, vergessend, was am mindsten zu bezweifeln, sein gläsern Element … wie zorn’ge Affen …« Seine Stimme hob sich, bis die Worte von den Mauern widerhallten. Der Beamte stand auf, und Nil straffte die Schultern. Dicht vor ihm blieb der Mann stehen, holte aus und schlug ihn ins Gesicht. »Halt die Schnauze, Mann.«
Halb bewusst registrierte Nil, dass der Wachtmeister ihn mit der linken Hand geschlagen hatte, und dass er, wäre er zu
Hause gewesen, daraufhin hätte baden und sich umziehen müssen. Doch das war in einem früheren Leben gewesen. Hier zählte etwas anderes: dass er den Mann endlich dazu gebracht hatte, ihn auf Englisch anzusprechen. »Einen angenehmen Tag wünsche ich Ihnen, Sir«, sagte er leise und neigte den Kopf.
»Schafft mir das Arschloch aus den Augen!«
In einem kleinen Nebenraum bekam Nil ein Bündel zusammengefalteter Kleider, die ein Sepoy abzählte, während er sie ihm Stück für Stück aushändigte: einen gamchhā , zwei Unterhemden, zwei Dhotis aus grobem Baumwollstoff und dazu eine Decke. »Pass gut drauf auf, was anderes kriegst du das nächste halbe Jahr nicht.«
Die ungewaschenen
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