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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Kattunsachen waren dick und rau wie Sackleinwand. Der Dhoti erwies sich als gerade halb so lang und breit wie die Stoffbahn, die Nil gewöhnt war; in der Taille gebunden, reichte sie ihm gerade bis zu den Knien. Offenbar sollte sie wie ein langot getragen werden, nur hatte Nil noch nie ein Lendentuch gebunden und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass einer der Sepoys ihn anfuhr: »Worauf wartest du noch? Zieh dich an!« – als hätte er sich aus freien Stücken entkleidet. Das Blut schoss ihm in den Kopf, er schob wie ein Geisteskranker das Becken vor und zeigte auf sich selbst. »Was ist? Was habt ihr noch nicht gesehen? Was fehlt denn noch?«
    Ein mitleidiger Ausdruck trat in die Augen des Sepoys. »Hast du denn jedes Schamgefühl verloren?« Und Nil nickte, als wollte er sagen, ja, so ist es; denn tatsächlich empfand er in diesem Augenblick keinerlei Scham mehr, und auch sonst fühlte er sich nicht mehr für seinen Körper verantwortlich. Es war, als hätte er ihn verlassen und ihn in den Besitz des Gefängnisses übergeben.
    »Los, mach schon!« Die Sepoys verloren die Geduld. Sie
nahmen Nil den Dhoti aus den Händen und zeigten ihm, wie er ihn binden musste, um die Enden zwischen den Beinen durchziehen und im Rücken feststecken zu können. Dann trieben sie ihn mit ihren Lanzen durch einen dunklen Korridor in eine kleine, aber mit Kerzen und Öllampen strahlend hell erleuchtete Zelle. In der Mitte des Raums saß ein fast nackter weißbärtiger Mann auf einer tintenfleckigen Matte. Seinen Oberkörper bedeckte ein kompliziertes Geflecht von Tätowierungen, und auf einem gefalteten Stoffviereck vor ihm lag ein Sortiment schimmernder Nadeln. Der Mann konnte nur ein Tätowierer sein, und als Nil das erkannte, fuhr er herum, als wollte er zum Ausgang stürzen. Die Sepoys aber waren dergleichen gewöhnt und rangen ihn schnell zu Boden, trugen ihn so, dass er sich nicht bewegen konnte, zu der Matte und brachten ihn in eine Stellung, in der sein Kinn auf den Knien des Tätowierers ruhte und er in das ehrwürdige Gesicht aufsah.
    Der Blick des alten Mannes hatte etwas Freundliches, und Nil fand die Sprache wieder. »Warum?«, fragte er, als sich die Nadel seiner Stirn näherte. »Warum machen Sie das?«
    »Das Gesetz will es so«, sagte der Tätowierer friedfertig. »Alle Sträflinge bekommen ein Zeichen, damit man sie bei einem Fluchtversuch erkennt.«
    Dann zischte die Nadel auf Nils Haut, und in seinem Kopf war für nichts anderes mehr Platz als für den krampfartigen Schmerz, der von seiner Stirn ausstrahlte. Es war, als rächte sich sein Körper, den er verlassen zu haben glaubte, an ihm dafür, dass er diese Illusion gehegt hatte, und erinnerte ihn daran, dass er, Nil, sein alleiniger Besitzer war, der Einzige, dem er seine Existenz durch die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, kundtun konnte.
    Der Tätowierer hielt inne; Nil schien ihm leidzutun. »Hier, essen Sie das«, flüsterte er. Seine Hand kreiste über Nils Gesicht
und schob ihm eine kleine Opiumkugel zwischen die Lippen. »Das hilft – essen Sie es …«
    Als das Opium sich in seinem Mund aufzulösen begann, merkte Nil, dass es nicht den Schmerz selbst betäubte, sondern nur dessen Dauer verkürzte. Sein Zeitgefühl stumpfte so ab, dass ihm die Prozedur, die Stunden mühevoller Arbeit kosten musste, auf wenige Augenblicke komprimiert schien. Dann hörte er wie durch dichten Winternebel das Flüstern des Tätowierers an seinem Ohr: »Raja-Sah’b … Raja-Sah’b …«
    Er schlug die Augen auf und sah, dass sein Kopf noch immer im Schoß des alten Mannes ruhte. Die Sepoys waren in den Ecken eingeschlummert.
    »Was ist?«, fragte er und regte sich.
    »Keine Sorge, Raja-Sahib«, flüsterte der Tätowierer. »Ich habe die Tinte mit Wasser verdünnt. Die Schrift wird sich nur wenige Monate halten.«
    Nil war zu berauscht, um zu begreifen. »Wieso? Warum tun Sie das für mich?«
    »Raja-Sahib, kennen Sie mich denn nicht mehr?«
    »Nein.«
    Der Tätowierer brachte seinen Mund noch näher an Nils Ohr. »Meine Familie ist aus Raskhali. Ihr Großvater hat uns dort Land gegeben; seit drei Generationen essen wir Ihr Brot.«
    Er gab Nil einen Spiegel in die Hand und neigte den Kopf. »Vergeben Sie mir, was ich tun musste, Raja-Sahib …«
    Nil hielt sich den Spiegel vors Gesicht und sah sein kurz geschnittenes Haar und zwei Reihen ungleichmäßiger lateinischer Buchstaben auf seiner rechten Stirnhälfte:

    urkundenfälscher
alipur 1838 .

DREIZEHNTES KAPITEL
    Z

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