Das mohnrote Meer - Roman
getrennt von den anderen in einer eigenen Zelle untergebracht.«
Nil nickte. »Ich verstehe.«
»Im Moment«, fuhr Bishuji fort, »ist nur einer hier, der wie du nach Marich geschickt wird, und ihr werdet zweifellos zusammen reisen. Deshalb ist es nur recht und billig, dass ihr euch eine Zelle teilt.«
Bishuji hatte es mit einem Unterton gesagt, der wie eine Warnung klang. »Wer ist der Mann?«, fragte Nil.
Ein Lächeln legte Bishujis Gesicht in Falten. »Er heißt Afat.«
»Afat?« Nil wunderte sich. Das Wort bedeutete »Unheil«,
und er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand es als Namen wählte. »Wer ist der Mann? Woher kommt er?«
»Aus Übersee, aus dem Land Maha-Chin.«
»Er ist Chinese?«
»Das vermuten wir, aber sicher ist es nicht«, sagte Bishuji, »denn wir wissen so gut wie nichts von ihm, nur dass er ein afīmkhor ist.«
»Ein Opiumsüchtiger?«, fragte Nil. »Und woher bekommt er sein Opium?«
»Das ist ja das Problem«, sagte der Jemadar. »Er ist ein afīmkhor ohne Opium.«
Inzwischen waren sie bei der Zelle angelangt, und Bishuji kramte in seinem Bund nach dem Schlüssel. Diese Ecke des Hofs war nur schwach beleuchtet, und in der Zelle war es so still, dass Nil auf den ersten Blick glaubte, sie sei leer. Er fragte, wo der Süchtige sei, und zur Antwort schob Bishuji ihn hinein.
»Er ist da; du wirst ihn finden.«
Drinnen standen zwei mit Seilen bespannte chārpāīs und in der hinteren Ecke ein Toiletteneimer mit einem Holzdeckel. Von diesen Dingen und einem Wasserkrug an der Wand abgesehen, schien die Zelle nichts weiter zu enthalten.
»Aber ich sehe ihn nicht«, sagte Nil.
»Er ist da – horch.«
Jetzt vernahm Nil ein Wimmern, begleitet von einem leisen Geräusch wie Zähneklappern. Es war ganz nah, musste also irgendwo aus der Zelle kommen. Er ging auf die Knie, schaute unter die chārpāīs und entdeckte unter einem von ihnen einen reglosen großen Klumpen. Er wich zurück, mehr aus Furcht als aus Ekel, wie vor einem schwer verletzten oder kranken Tier. Die Kreatur gab einen Laut von sich, mehr Heulen als Stöhnen, und alles, was er von ihrem Gesicht sah,
war ein glitzerndes Auge. Bishuji schob einen Stock durch das Gitter und unter die chārpāī . »Afat! Komm raus! Schau, du bekommst Gesellschaft!«
Von dem Stock angestoßen, schob sich ein Arm unter dem Bett hervor, ein schmutzverkrusteter Männerarm. Dann kam ein Kopf mit einer dicken Schicht verfilzter Haare und einem zu Strängen gedrehten schwarzen Bart zum Vorschein. Nach und nach tauchte auch der übrige Körper auf, dessen Schmutzschicht nicht einmal mehr erkennen ließ, ob der Mann nackt oder angezogen war. Plötzlich hing ein Geruch in der Zelle, der Nil sagte, dass der Mann nicht nur mit Dreck, sondern auch mit Kot und Erbrochenem bedeckt war.
Nil fuhr entsetzt herum, umklammerte die Gitterstäbe und rief nach Bishuji: »Ich kann hier nicht bleiben, erbarmen Sie sich, lassen Sie mich raus …«
Bishuji machte kehrt und kam zurück.
»Hör zu«, sagte er und drohte Nil mit dem Finger. »Hör gut zu: Wenn du glaubst, du kannst dich vor dem Mann verstecken, dann irrst du dich. Von jetzt an wirst du diesem Afat nicht mehr entkommen. Er wird mit dir auf dem Schiff sein, und du musst mit ihm übers Schwarze Wasser fahren. Er ist alles, was du hast, deine Kaste, deine Familie, dein Freund. Weder ein Bruder noch eine Ehefrau oder ein Sohn werden dir je so nah sein wie er. Du musst dich mit ihm arrangieren, so gut du kannst; er ist dein Schicksal, deine Bestimmung. Schau in den Spiegel, und du wirst sehen: Dem, was auf deiner Stirn steht, dem kannst du nicht entrinnen.«
Es überraschte Jodu nicht, dass Paulette nach ihrem nächtlichen Treffen mit Zachary immer verdrießlicher und gereizter wurde. Offensichtlich gab sie ihm, Jodu, die Schuld am Scheitern ihres Plans, und oft schlich sich jetzt ein ungewohnt
gehässiger Unterton in ihre sonst so harmlosen Kabbeleien. Wenn zwei Menschen in einem kleinen Boot einander grollten, so war das alles andere als angenehm, aber Jodu begriff, dass Paulette sich ohne Geld und ohne Freunde in einer schlimmen, ja verzweifelten Lage befand, und er brachte es nicht übers Herz, ihr die Zuflucht seines Pansari zu verwehren. Aber das Boot war nur gemietet und musste zurückgegeben werden, sobald die Ibis auslief. Was würde Paulette dann tun? Sie wollte nicht darüber sprechen, und er konnte es ihr nicht verübeln; er mochte selbst kaum daran denken.
Es regnete noch immer stark, und
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