Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
prächtig, dass sie in den Palast eines Rajas gepasst hätte. An einem Ende stand ein kleiner, kunstvoll geschnitzter Schreibtisch mit winzigen Fächern und einem versenkten Tintenfass, am anderen befand sich eine geräumige Koje, an der ein blitzender Kerzenhalter befestigt war. Jodu warf sich auf die Matratze und wippte auf und ab. »Ach, wär ich nur ein Mädchen, eine Rani und kein Raju! Stell dir vor, wie das wäre auf diesem …«

    Einen Moment lang hingen beide ihren Träumen nach.
    »Irgendwann«, seufzte Jodu schließlich, »irgendwann hab ich auch so ein Bett.«
    »Und ich werde Kaiser von China …«
    Vor den hinteren Kabinen lag die Mittschiffskajüte, in der die Wachen und Aufseher untergebracht werden sollten. Auch dieser Teil des Schoners war verhältnismäßig bequem. Statt Hängematten gab es hier Kojen, und der Raum war gut beleuchtet: Bullaugen ließen Tageslicht herein, und an der Decke hingen mehrere Lampen. Wie die hinteren Kajüten war auch die Mittschiffskajüte durch einen eigenen Niedergang und eine Treppe mit dem Hauptdeck verbunden. Die Treppe führte sogar noch weiter in den Bauch des Schiffes hinab, bis hinunter in die Laderäume, die Hellegats und Lasten, in denen Vorräte und Material gelagert wurden.
    Neben der Mittschiffskajüte lag das Quartier der Auswanderer: das Zwischendeck, von den Laskaren »Schachtel« oder dabusā genannt. Wenig hatte sich darin verändert, seit Jodu es zum ersten Mal gesehen hatte. Es war noch genauso trostlos, dunkel und übel riechend – nichts als eine ringsum geschlossene Fläche mit gebogenen Balken an den Seiten –, nur die Ketten und Ringbolzen waren entfernt worden, und man hatte einige Latrinen und Pissoirs eingebaut. Der Laderaum flößte der Mannschaft ein geradezu abergläubisches Entsetzen ein, und weder Jodu noch Raju mochten sich lange hier aufhalten. Sie stiegen rasch wieder nach oben und beeilten sich, in ihre eigene Unterkunft zu kommen, die Back. Hier war die erstaunlichste Veränderung eingetreten: Das hintere Ende war abgeteilt worden und bildete jetzt eine Zelle mit einer massiven Tür.
    »Das kann nur bedeuten, dass wir Sträflinge an Bord haben werden«, sagte Raju.

    »Wie viele?«
    »Keine Ahnung.«
    Die Tür der Zelle stand offen, und sie kletterten hinein. Der Raum war eng wie ein Hühnerstall und stickig wie eine Schlangengrube. Außer dem verschließbaren Guckloch in der Tür gab es nur noch eine kleine Lüftungsöffnung in dem Schott, das die Zelle vom Laderaum der Kulis trennte. Wenn Jodu sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er sein Auge daranhalten. »Zwei Monate in diesem Loch«, sagte er zu Raju. »Und nichts zu tun, als die Kulis zu beobachten …«
    »Nichts zu tun?«, gab Raju spöttisch zurück. »Die werden Werg zupfen, bis ihnen die Finger abfallen. Die werden so viel arbeiten müssen, dass sie ihren eigenen Namen vergessen.«
    »Apropos Arbeit«, sagte Jodu. »Wie steht’s mit unserem Tausch? Meinst du, die lassen mich an deiner Stelle auf den Mast?«
    Raju sah zweifelnd drein. »Ich hab heute mit Mamdu-Tindal gesprochen, aber er hat gesagt, er muss es erst mal mit dir probieren.«
    »Wann?«
    Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Als sie aufs Hauptdeck zurückkamen, rief eine Stimme von oben: »He, du da! Flussratte!« Jodu schaute hinauf: Mamdu-Tindal winkte ihn von der Saling des Fockmastes heran. »Komm rauf!«
    Er wollte ihn auf die Probe stellen, das wusste Jodu, und so spuckte er in die Hände und murmelte ein bismillāh , bevor er nach der Webeleine griff. Auf halbem Wege waren seine Hände bereits blutig zerschrammt – es war, als wären Dornen aus dem Hanftau gesprossen –, aber das Glück ließ ihn nicht im Stich. Er erreichte nicht nur die Saling, er schaffte es auch noch, sich das Blut an den Haaren abzuwischen, bevor der Tindal es sah.

    »Chalega! «, sagte Mamdu-Tindal und nickte widerstrebend. »In Ordnung – nicht schlecht für einen dandi-vālā …«
    Aus Angst, zu viel zu sagen, antwortete Jodu nur mit einem bescheidenen Grinsen; wäre er aber zum König gekrönt worden, sein Triumph hätte nicht größer sein können, als er sich auf die Saling schwang. Welcher Thron bot schon eine so großartige Aussicht auf die untergehende Sonne im Westen, den Verkehr unten auf dem Fluss?
    »Hier oben wird’s dir gefallen«, sagte Mamdu-Tindal. »Und wenn du nett darum bittest, bringt Ghasiti dir vielleicht bei, wie sie den Wind liest.«
    »Den Wind lesen? Wie das?«
    »So.« Der Tindal

Weitere Kostenlose Bücher