Das mohnrote Meer - Roman
stieg auf die Rah, legte sich hin und drehte sich so, dass seine Beine zum Horizont zeigten, wo die Sonne unterging. Dann hob er die Beine an und schüttelte seine lungī , bis sie sich wie ein Trichter öffnete. Als der Wind hineinblies, ächzte er triumphierend. »Jawohl! Ghasiti sagt voraus, dass der Wind auffrischen wird. Sie spürt es! Er ist an ihren Knöcheln, ihren Beinen, seine Hand schiebt sich langsam aufwärts, sie spürt ihn da …«
»An den Beinen?«
»In ihrem Windloch, du Dummkopf, wo denn sonst?«
Jodu musste so lachen, dass er fast von der Saling gefallen wäre. Nur eins, dachte er mit leisem Bedauern, hätte den Spaß noch steigern können: wenn Paulette dabeigewesen wäre – dergleichen Albernheiten hatten sie beide stets begeistert.
Es dauerte nicht lange, bis Nil herausfand, dass die Qualen seines Zellengenossen einem bestimmten vorhersehbaren Rhythmus folgten. Seine Krämpfe beispielsweise begannen mit einem leichten, kaum merklichen Zittern, wie wenn man
sich in einem etwas zu kalten Raum aufhält. Es nahm jedoch immer mehr zu und wurde schließlich so heftig, dass er von seiner chārpāī fiel und dann zuckend am Boden lag. Seine Muskeln, die sich unter der Schmutzschicht abzeichneten, zogen sich zusammen und entspannten sich wieder, nur um sich gleich darauf von Neuem zu verkrampfen. Es war, als sähe man einen Sack voller wuselnder Ratten. Wenn der Anfall nachließ, lag er eine Zeit lang bewusstlos da, dann regte er sich wieder, sein Atem ging schwer und rasselnd, doch seine Augen blieben geschlossen. Seine Lippen begannen, sich zu bewegen und formten Worte, und er glitt in ein Delirium hinüber, in dem es ihm irgendwie gelang weiterzuschlafen, obwohl er sich heftig hin- und herwarf und laute Rufe in seiner Sprache ausstieß. Dann schien unter seiner Haut ein Feuer auszubrechen, und er schlug sich überallhin, wie um Flammen zu löschen. Gelang das nicht, wurden seine Hände zu Klauen, die sich in sein Fleisch gruben, als wollten sie eine Schicht verkohlter Haut abreißen. Erst dann öffneten sich seine Augen; sein erschöpfter Körper ließ ihn erst aufwachen, wenn er versucht hatte, sich die Haut abzuziehen.
So grauenvoll diese Symptome auch waren – nichts setzte Nil so sehr zu wie die chronische Inkontinenz seines Zellengenossen. Zu sehen, zu hören und zu riechen, wie sich ein erwachsener Mann hilflos auf den Boden, auf sein Bett und auf sich selbst entleerte, wäre für jeden hart gewesen – für einen peniblen Mann wie Nil aber war es, als müsste er mit der Verkörperung all dessen zusammenleben, was er verabscheute. Später sollte er erfahren, dass eine nicht unbedeutende Eigenschaft des Opiums seine starke Wirkung auf den Verdauungstrakt ist; richtig dosiert, war es ein Heilmittel gegen Durchfall und Ruhr, zu große Mengen konnten jedoch den Darm lähmen – bei Süchtigen ein häufiges Symptom. Umgekehrt
löste plötzlicher Entzug nach gewohnheitsmäßigem exzessivem Konsum unkontrollierbare Krämpfe der Schließmuskeln aus, sodass der Betroffene weder Flüssigkeiten noch feste Nahrung bei sich behalten konnte. Dieser Zustand hielt für gewöhnlich nicht länger als einige Tage an. Das wäre Nil – hätte er es gewusst – jedoch kein Trost gewesen; ihm erschien jede Minute in der Nähe dieses tropfenden, nässenden, speienden Zellengenossen endlos. Bald begann er, selbst zu zittern und zu halluzinieren. Hinter seinen geschlossenen Lidern erwachte der Kot auf dem Boden zum Leben und bohrte ihm seine Tentakel in die Nase, senkte sich in seinen Mund und packte ihn an der Kehle. Wie lange seine eigenen Anfälle dauerten, wusste er nicht, aber von Zeit zu Zeit öffnete er die Augen und sein Blick fiel auf die Gesichter anderer Häftlinge, die ihn verwundert anstarrten. In einem dieser wachen Momente merkte er, dass jemand das Gitter geöffnet und zwei Gegenstände in die Zelle gebracht hatte: einen Besen und eine Schaufel, wie sie von den Sweepern zum Reinigen von Abtritten benutzt wurden.
Wenn er bei Verstand bleiben wollte, das wusste Nil, musste er zu Schaufel und Besen greifen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aufzustehen und die drei oder vier Schritte zu gehen, kostete ihn jedoch fast übermenschliche Anstrengung, und als er die Geräte schließlich in Reichweite hatte, konnte er seine Hand nicht dazu bringen, sie zu berühren. Die Gefahr, die damit verbunden war, erschien ihm unvorstellbar groß, denn er würde dann nicht mehr der sein, der er eben noch
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