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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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mit seinem eigenen Herrscher, seinen eigenen Untertanen und Gesetzen. Es dauerte mehr als einen Tag, bis Nil den Übergang vom äußeren Bereich des Gefängnisses, in dem die Briten das Zepter führten, in den inneren Bezirk vollzogen hatte. Die erste Nacht verbrachte er in einer Übergangszelle, und erst am Abend des zweiten Tages wurde er einem Zellentrakt zugewiesen. Bis dahin hatte sich ein seltsames Gefühl der Entfremdung seiner bemächtigt, und obgleich er kaum etwas über die interne Organisation des Gefängnisses wusste, zeigte er keine Überraschung, als seine Wärter ihn der Obhut eines anderen Sträflings übergaben, der wie er in weißen Kattun gekleidet war, nur dass sein Dhoti bis zu den Knöcheln reichte und sein Kittel blütenrein war. Er hatte die wuchtige Statur eines alternden Ringers, und Nil bemerkte an ihm sogleich die Insignien einer Respektsperson: den wohlgerundeten Bauch, den gepflegten grauen Bart und den mächtigen Schlüsselbund an seiner Taille. Alle Häftlinge in den Zellen, an denen sie vorüberkamen, grüßten ihn gleichermaßen ehrerbietig und nannten ihn »Bishuji«. Offensichtlich war er einer der Jemadars des Gefängnisses, ein Sträfling, dem die Gefängnisleitung aufgrund seiner langen Haftzeit, seiner Charakterstärke oder seiner rohen Körperkräfte eine gewisse Autorität übertragen hatte.

    Der Trakt, in den Nil gebracht wurde, hatte einen quadratischen Innenhof mit einem Brunnen an einer und einem hohen Niembaum an der anderen Seite. Hier kochten, aßen und wuschen sich die Insassen. Nachts schliefen sie in Gemeinschaftszellen, vormittags arbeiteten sie in Trupps, in der übrigen Zeit aber war der Hof Mittelpunkt ihres Lebens, der häusliche Herd, an dem ihre Tage endeten und begannen. Die Abendmahlzeit war gerade verzehrt, die Kochfeuer erloschen, und die Gefangenen wurden in Gruppen durch die schweren eisernen Gittertüren rings um den Hof für die Nacht in ihre Zellen geführt. Von den Männern, die draußen blieben, versammelte sich ein Teil um den Brunnen und reinigte Töpfe und sonstiges Gerät, die anderen, die Jemadars des Trakts, saßen müßig unter dem Niembaum, wo vier chārpāīs im Kreis standen. Bedient wurden sie von einigen ihrer Getreuen, denn jeder von ihnen hatte eine Gruppe unter sich – teils Clique, teils Familie –, und innerhalb einer solchen Gruppierung war der Jemadar Oberhaupt und Haushaltsvorstand. Ganz ähnlich, wie ein Zamindar von Mitgliedern seiner Zenana bedient wurde, so warteten den Jemadars die von ihnen bevorzugten Chakaras und Anhänger auf. Jetzt, am Ende des Tages, machten es sich die Aufseher unter sich bequem und ließen sich Wasserpfeifen anzünden, Chillums mit gānjā stopfen und die Füße massieren.
    Was nun folgte, hatte einige Ähnlichkeit mit einer Versammlung von Dorfältesten. Bishuji stellte mit der Präzision eines Rechtsanwalts Nils Fall vor und berichtete von der Raskhali-Zamindari, der Anklage der Urkundenfälschung und dem Prozess vor dem Obersten Gericht. Woher er diese Informationen hatte, war Nil schleierhaft, aber er spürte, dass Bishuji ihm nicht übelwollte, und war ihm dankbar für die gewissenhafte Darstellung der Einzelheiten seines Falls.

    Aus den Schreckensrufen, mit denen das Ende von Bishujis Bericht quittiert wurde, schloss Nil, dass selbst für diese langjährigen Gefängnisinsassen die Deportation einen unaussprechlichen Schrecken darstellte. Er wurde in die Mitte der Versammlung gerufen und musste seine tätowierte Stirn zeigen, die voller Faszination, Abscheu, Mitgefühl und Ehrfurcht begutachtet wurde. Er ließ es ohne Widerstreben geschehen und hoffte, die Tätowierung würde ihn von unbedeutenderen Sträflingen abheben und ihm gewisse Privilegien verschaffen.
    Stille trat ein zum Zeichen, dass die Beratungen der panchāyat beendet waren, und Bishuji bedeutete Nil, ihm über den Hof zu folgen.
    »Hör zu«, sagte er, »ich werde dir jetzt die Regeln erklären. Es ist hier üblich, dass ein Neuer dem einen oder anderen Jemadar zugewiesen wird, je nach Herkunft und Charakter. Für jemanden wie dich gilt das jedoch nicht, weil das Urteil, das über dich gefällt worden ist, die Bande, die andere noch haben, für immer zerreißen wird. Wenn du das Schiff besteigst und übers Schwarze Wasser fährst, wirst du mit den anderen Deportierten eine ganz eigene Bruderschaft bilden. Ihr werdet ein Dorf für euch sein, eine Familie für euch, eine Kaste für euch. Deshalb werden hier Männer wie du

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