Das mohnrote Meer - Roman
so schwach, dass er dabei eher einem ermatteten Vogel glich. Nil konnte ihn mühelos niederhalten, und nach wenigen Minuten ließ sein Zucken nach, und er verfiel in eine Art Starre. Nachdem Nil seine Brust mit dem Bimsstein gescheuert hatte, wickelte er die Seifensplitter in einen Lappen und begann die Glieder des Mannes zu waschen. Er war zum Skelett abgemagert, und seine Haut war von Schorf und – durch Ungeziefer hervorgerufenen – Wunden bedeckt, aber seine Muskeln waren elastisch, wie sich bald zeigte, also konnte er nicht der ältere Mann sein, für den Nil ihn gehalten hatte: Er war viel jünger, als es den Anschein hatte; offenbar war er noch ein kraftstrotzender junger Mann gewesen, als die Droge Macht über ihn gewann. Die Schnur seines Payjamas war heillos verknotet, und so schnitt Nil sie durch und zerriss das wenige, was von der Hose noch übrig war. Der Gestank verursachte ihm
Brechreiz, aber er begann, Wasser zwischen die Beine des Mannes zu schütten, und hielt ab und zu inne, um Atem zu schöpfen.
Sich eines anderen Menschen anzunehmen, war etwas, das Nil noch nie getan hatte. Er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, auch nicht bei seinem eigenen Sohn, geschweige denn bei einem gleichaltrigen Mann, einem Fremden. Er kannte nur die andere Seite: die liebevolle Pflege, die ihm seine Betreuer so reichlich hatten angedeihen lassen. Dass sie ihn liebten, hatte er als selbstverständlich angesehen; da er aber wusste, dass seine eigenen Gefühle ihren in keiner Weise entsprachen, hatte er sich oft gefragt, wie es zu dieser Anhänglichkeit gekommen war. Jetzt tauchte in ihm die Frage auf, ob nicht möglicherweise die bloße Tatsache, dass man einen anderen berührte und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, einen Stolz und eine Zärtlichkeit wachrief, die gar nichts mit der Reaktion des Objekts der Fürsorge zu tun hatten. Wird nicht auch die Liebe eines Handwerkers zum Werk seiner Hände nicht im Mindesten dadurch geschmälert, dass sie nicht erwidert wird?
Nachdem Nil seinen Zellengenossen in den Dhoti gehüllt hatte, lehnte er ihn an den Niembaum und zwang ihn, etwas Reis zu essen. Ihn nun wieder auf seine mit Ungeziefer verseuchte chārpāī zu legen, hätte bedeutet, all die Arbeit zunichte zu machen, und so bereitete er ihm in einer Ecke ein Lager aus Decken. Dann zog er das verdreckte Bett zum Brunnen, schrubbte es gründlich und stellte es, wie er es bei den anderen Häftlingen gesehen hatte, umgedreht in die Sonne, damit sie seine bleiche, wuselnde Fracht blutsaugender Insekten wegbrannte. Erst danach wurde ihm bewusst, dass er das schwere Gestell ganz allein hochgehoben hatte, ohne Hilfe – er, von dem man sich in der Familie erzählte, er sei von Geburt
an schwächlich gewesen und habe alle möglichen Krankheiten durchgemacht. Ebenso hatte es geheißen, er würde sich an allen anderen als den delikatesten Speisen verschlucken – dabei aß er nun schon viele Tage lang nichts als die billigsten Linsen und den gröbsten Reis, kleinkörnig, rot geädert und voller Steinchen –, und sein Appetit war nie kräftiger gewesen.
Am nächsten Tag schloss er über eine Reihe von Tauschgeschäften, bei denen er Briefe an Chakaras und Jemadars in anderen Trakten des Gefängnisses schrieb, einen Handel mit einem Barbier, um Kopf und Gesicht seines Zellengenossen rasieren zu lassen.
»Ich schneide ja nun schon seit vielen Jahren Haare«, sagte der Mann, »aber so etwas habe ich noch nicht gesehen.«
Nil schaute ihm über die Schulter. Wo die Kopfhaut seines Mithäftlings zum Vorschein kam, entsprossen ihr neue Gewächse – ein sich bewegender, wie Quecksilber schimmernder Belag: eine wimmelnde Masse von Läusen, die zusammen mit den verfilzten Haarbüscheln in Schauern zu Boden fielen. Nil hatte alle Hände voll damit zu tun, Wasser zu holen und die Insekten fortzuspülen, bevor sie über andere herfallen konnten.
Das Gesicht, das nach und nach auftauchte, war kaum mehr als ein Totenkopf: eingesunkene Augen, eine schmale Hakennase, eine Stirn, deren Knochen die Haut fast durchstießen. Dass etwas an dem Mann chinesisch war, verrieten der Schnitt seiner Augen und seine Hautfarbe, aber die markante Nase und der breite Mund mit den vollen Lippen deuteten auch auf eine andere Herkunft hin. Nil glaubte in dem verwüsteten Gesicht den Geist eines anderen Selbst zu entdecken, lebendig und suchend. Obwohl zeitweilig durch das Opium verbannt, hatte dieses andere Wesen den Anspruch auf
seine Wohnstatt noch
Weitere Kostenlose Bücher