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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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gewesen war. Er schloss die Augen und streckte blind die Hand aus, und erst, als der Besenstiel darin lag, gestattete er sich hinzuschauen. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass sich ringsum nichts verändert hatte, denn in seinem Inneren spürte er Anzeichen eines unumkehrbaren Wandels. In gewisser
Weise war er kein anderer als der, der er immer gewesen war, Nil Rattan Halder, und doch war er anders, denn seine Hand umschloss einen Gegenstand, vor dem er bisher voller Ekel zurückgeschaudert war. Nun aber sah er darin nicht mehr und nicht weniger als das, was es war: ein Werkzeug, das er nach Belieben benutzen konnte. Er kauerte sich auf die Fersen, wie er es bei den Sweepern oft gesehen hatte, und begann den Kot seines Zellengenossen aufzufegen.
    Nachdem er einmal angefangen hatte, arbeitete er wie ein Besessener weiter. Er schrubbte Wände und Boden, spülte alles in die Abflussrinne der Zelle und sparte nur einen Teil aus, eine kleine Insel neben dem Mülleimer, in die er die chārpāī seines Zellengenossen geschoben hatte, in der Hoffnung, er möge sich auf diese eine Ecke beschränken. Bald kamen etliche andere Häftlinge heran und schauten ihm bei der Arbeit zu; einige halfen ihm sogar unaufgefordert, holten Wasser vom Brunnen und warfen Scheuersand auf den Boden. Als Nil in den Hof ging, um seine Kleider und sich selbst zu waschen, wurde er an mehrere Kochfeuer eingeladen, auf denen das Essen zubereitet wurde.
    »Komm her … iss mit uns …«
    Während er aß, fragte jemand: »Stimmt es, dass du lesen und schreiben kannst?«
    »Ja.«
    »Auf Bengali?«
    »Auch auf Englisch. Und Persisch und Urdu.«
    Ein Mann hockte sich neben ihn. »Kannst du einen Brief für mich schreiben?«
    »An wen?«
    »An den Zamindar meines Dorfs. Er will meiner Familie Land wegnehmen, und ich möchte ihm eine Bittschrift schicken …«

    Es hatte eine Zeit gegeben, da waren in den Daftars der Raskhali-Zamindari Dutzende solcher Gesuche eingegangen. Nil hatte sich zwar selten die Mühe gemacht, sie selbst zu lesen, aber die Formulierungen kannte er. »Gut«, sagte er, »ich mache das, aber du musst mir Papier, Tinte und eine Feder besorgen.«
    Wieder in seiner Zelle, sah er zu seiner Bestürzung, dass seine Arbeit weitgehend umsonst gewesen war, denn sein Zellengenosse hatte sich in einem seiner Krampfanfälle über den Boden gewälzt und eine Schmutzspur hinterlassen. Nil konnte ihn gerade noch in seine Ecke zurückstoßen, zu mehr war er vor Erschöpfung nicht mehr imstande.
    Die Nacht verlief ruhiger als die vorhergehende, und Nil bemerkte eine Veränderung im Rhythmus der Anfälle seines Mitgefangenen. Sie ließen an Heftigkeit nach und gönnten ihm längere Ruhepausen. Auch seine Inkontinenz schwächte sich etwas ab, vielleicht weil nichts mehr in ihm war, was er hätte von sich geben können. Als Bishuji am Morgen das Gitter aufschloss, sagte er: »Als Nächstes wirst du Afat waschen müssen, daran führt kein Weg vorbei. Wenn er das Wasser spürt, wird es ihm nach und nach besser gehen. Ich habe das schon öfter erlebt.«
    Nil betrachtete den ausgemergelten, von einer Kotkruste überzogenen Körper seines Zellengenossen und die verfilzten Haare. Auch wenn er seinen Ekel überwand und ihn wusch – was wäre damit erreicht? Er würde sich nur selbst von Neuem beschmutzen, und sein einziges Kleidungsstück war sein besudelter Payjama.
    »Soll ich dir jemanden schicken, der dir hilft?«, fragte Bishuji.
    »Nein«, antwortete Nil. »Das mache ich selbst.«
    Nach mehreren Tagen in der gemeinsamen Zelle hatte Nil
mehr und mehr das Gefühl, dass die Not seines Mithäftlings auch seine eigene sei. Er musste selbst tun, was zu tun war, auf Gedeih und Verderb.
    Die Vorbereitungen nahmen einige Zeit in Anspruch. Im Tausch gegen seine Dienste als Briefschreiber erhielt Nil ein paar Seifensplitter, einen Bimsstein, einen Dhoti und eine baniyāin . Bishuji zu überreden, die Zelle offen zu lassen, erwies sich als überraschend einfach. Da sie bald abtransportiert werden sollten, wurden Nil und sein Zellengenosse keinem Arbeitstrupp zugeteilt, und so hatten sie den Hof am Vormittag die meiste Zeit für sich allein. Nachdem die anderen aufgebrochen waren, füllte Nil am Brunnen mehrere Eimer mit Wasser, dann schleifte er seinen Mithäftling über den Hof. Der Süchtige wehrte sich kaum, und sein vom Opium ausgezehrter Körper war erstaunlich leicht. Beim ersten Wasserguss regte er sich ein wenig, als wollte er Nils Hände abwehren, aber er war

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