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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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nicht ganz aufgegeben. Welche Fähigkeiten und Begabungen es wohl besessen hatte? Versuchsweise fragte Nil auf Englisch: »Wie heißt du?«
    Ein Flackern trat in die trüben Augen des Süchtigen, als hätte er die Worte verstanden, und als er den Kopf senkte, deutete Nil die Geste nicht als Verweigerung, sondern als das Aufschieben einer Antwort. Von da an besserte sich der Zustand des Mannes stetig, und Nil machte ein Ritual daraus, die Frage einmal am Tag zu wiederholen. Seine Verständigungsversuche blieben zwar erfolglos, aber er zweifelte nicht daran, dass er bald eine Antwort erhalten würde.

    An dem Nachmittag, als Zachary an Bord der Ibis kam, ging Mr. Crowle mit langsamen, nachdenklichen Schritten auf dem Achterdeck auf und ab, fast als übte er schon für später, wenn er Kapitän sein würde. Als er Zachary mit seinem Seesack über der Schulter erblickte, blieb er stehen und sagte mit gespielter Überraschung: »Ja, wen haben wir denn da? Ich will verflucht sein, wenn das nicht unser Lord Grünschnabel persönlich ist, bereit, die Geister aus der wüsten Tiefe zu rufen.«
    Zachary hatte beschlossen, sich von dem Ersten Steuermann nicht provozieren zu lassen. Er grinste vergnügt und stellte seinen Seesack ab. »Guten Tag, Mr. Crowle«, sagte er und streckte ihm die Hand hin. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«
    »So – hoffen Sie das?« Mr. Crowle schüttelte ihm derb die Hand. »Wusste gar nicht, dass wir das Vergnügen mit Ihnen haben würden. Dachte, ehrlich gesagt, Sie würden die Leinen loswerfen und das Weite suchen. Ein fescher Jungspund wie Sie – dachte, Sie würden sich nach einem lukrativen Posten an Land umsehen.«
    »Kam mir gar nicht in den Sinn, Mr. Crowle«, erwiderte
Zachary prompt. »Meine Koje auf der Ibis würde ich gegen nichts eintauschen.«
    »Sagen Sie so was nicht, Grünschnabel – dafür ist es noch zu früh.« Der Erste Steuermann lächelte. »Viel zu früh.«
    Zachary tat seine Worte mit einem Achselzucken ab, und in den folgenden Tagen hatte er mit dem Stauen der Vorräte und der Kontrolle des Ersatzteilbestandes alle Hände voll zu tun, sodass sich zwischen ihm und Mr. Crowle nur flüchtige Kontakte ergaben. Eines Nachmittags aber kam Steward Pinto nach achtern und teilte Zachary mit, dass gerade das Kontingent Wachen und Aufseher für den Schoner an Bord komme. Neugierig ging Zachary aufs Achterdeck hinaus, um sich die Sache anzusehen, und nach wenigen Minuten trat Mr. Crowle zu ihm an die Nagelbank.
    Die Wachen waren größtenteils beturbante Silahdars, ehemalige Sepoys mit Bandelieren über der Brust, die Aufseher – »Mistris« genannt – wohlhabend wirkende Männer in dunklen chapkans und weißen Dhotis. Auffallend an beiden war, mit welch großspurigem Gehabe sie an Bord kamen, fast wie ein Prisenkommando. Ihr Gepäck selbst zu tragen schien unter ihrer Würde, nur ihre Waffen – Stöcke, Peitschen, Lanzen und Säbel – geruhten sie mit sich zu führen. Ihre Feuerwaffen, ein eindrucksvolles Arsenal an Musketen, Schießpulver und Pistolen, wurden von uniformierten Trägern an Bord und in die Waffenkammer des Schoners gebracht. Was ihr übriges Gepäck anbelangte, so fiel es den Laskaren zu, ihre Besitztümer und Vorräte unter einem Hagel von Tritten, Knüffen und Flüchen heranzuschleppen und zu verstauen.
    Der Anführer des Trupps, Subedar Bhairo Singh, kam als Letzter an Bord, und sein Einzug erfolgte mit dem größten Zeremoniell. Die Mistris und Silahdars empfingen ihn wie einen Potentaten, in Reih und Glied, Kopf und Rücken tief gebeugt,
um ihm ihre Salams zu entbieten. Der Subedar, ein beleibter Mann mit Stiernacken und mächtigem Brustkorb, trug einen blütenweißen Dhoti und einen langen kurtā mit glänzender Seidenschärpe. Seinen Kopf umhüllte ein majestätischer Turban, und unter den Arm hatte er sich einen dicken Stock geklemmt. Seinen weißen Schnauzbart zwirbelnd, inspizierte er den Schoner und schien nicht sonderlich angetan, bis sein Blick auf Mr. Crowle fiel. Strahlend legte er zur Begrüßung die Hände aneinander, und auch Mr. Crowle schien sich zu freuen, denn Zachary hörte ihn murmeln: »Sieh an, das gute alte Fladengesicht!« Dann rief er laut und so herzlich, wie Zachary es noch nie von ihm gehört hatte: »Einen schönen guten Tag wünsche ich Ihnen, Subby-dar!«
    Diese ungewohnte Leutseligkeit veranlasste Zachary zu der Frage: »Ein Freund von Ihnen, Mr. Crowle?«
    »Wir sind schon öfter zusammen gefahren, und ist es nicht immer

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