Das mohnrote Meer - Roman
– er machte kleinere Schritte als früher und wiegte sich in den Hüften –, und vorsichtshalber folgte sie ihm einige Minuten, ehe sie ihn im Flüsterton ansprach: »Gumashta-Babu …«, zischte sie. »Hören Sie …«
Er fuhr beunruhigt herum, und sein Blick wanderte vom Ufer zu der nahen Gasse. Paulette stand zwar in seinem Blickfeld, doch seine von einem dünnen Kajalstrich umrandeten Augen glitten über ihr verschleiertes Gesicht hinweg. Wieder zischte sie, diesmal auf Englisch: »Babu Nob Kissin … ich bin’s …«
Er schien noch überraschter, erkannte sie aber noch immer nicht und begann, Gebete zu murmeln, als wollte er einen Geist vertreiben: »He rādhe, he shyām …«
»Nob Kissin Babu! Ich bin’s, Paulette Lambert«, flüsterte sie von Neuem. »Hier bin ich!« Als seine vorquellenden Augen sich auf sie richteten, schlug sie für einen Moment ihren Schleier zurück. »Sehen Sie? Ich bin’s!«
Er sprang erschrocken zurück und trat dabei mehreren Passanten auf die Füße, doch die Flüche, die daraufhin auf ihn niederprasselten, blieben unbeachtet, denn Paulettes nun wieder verhülltes Gesicht nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »Miss Lambert? Ich kann nicht glauben! An meiner Rückseite Sie tauchen auf? Und einheimisch gekleidet auch. So gut Sie verstecken Gesicht, dass ich nicht …«
»Schsch!«, bat Paulette. »Ich bitte Sie, Babu Nob Kissin, senken Sie Ihre Stimme.«
Der Gumashta verfiel in ein durchdringendes Flüstern. »Aber Miss, was Sie machen in Ecken und Winkeln hier, bitte Sie sagen? Alle Sie suchen überall, vergeblich. Aber macht nichts – Herr wird freuen wie verrückt. Wir zurückgehen sofort.«
»Nein, Babu Nob Kissin, ich habe nicht die Intention, nach Bethel zurückzukehren. Ich habe Sie gesucht, denn Sie sind es, mit dem ich pressant sprechen muss. Darf ich Sie bitten, sich ein wenig Zeit zu nehmen und sich zu mir zu setzen? Wenn es Sie nicht zu sehr derangiert?«
»Setzen?« Der Gumashta bedachte die schlammbespritzten, unratübersäten Stufen des Ghats mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. »Aber diese Lokalität schmerzlich Möbel entbehrt. Wie sitzen? Unsere Saris – ich meine, unsere Kleider vielleicht schmutzig werden.«
»Keine Angst, Babu Nob Kissin.« Paulette zeigte auf den Hügel. »Auf diesem Monticule können wir uns in den Schutz des Baums begeben. Niemand wird uns sehen, das versichere ich Ihnen.«
Der Gumashta beäugte den Baum besorgt. Er hegte neuerdings eine hausfrauliche Aversion gegen alle kriechenden und krabbelnden Lebewesen und achtete peinlich darauf, sich von
allem fernzuhalten, was solcherlei Getier beherbergen konnte. Jetzt aber obsiegte seine Neugier über sein Misstrauen gegen Grünes. »Gut«, sagte er widerstrebend. »Ich Ihrer Bitte entspreche. Setzen wir Fuß hinein.«
Sie stiegen hinauf und drangen in das verschlungene Wurzeldickicht ein. Babu Nob Kissin ging langsam, beklagte sich jedoch nicht, bis Paulette ihn zu der schaukelnden Wurzel geleitete, die ihr als Sitzplatz gedient hatte. Nachdem er den knorrigen Ausläufer inspiziert hatte, erklärte er mit einer ablehnenden Geste: »Dieser Platz nicht ist geeignet für Sitzen. Insekten hier frönen dies und das. Wilde Raupen auch können sein vorhanden.«
»Aber Raupen leben nicht auf den Wurzeln solcher Bäume«, sagte Paulette. »Ich versichere Ihnen, man kann hier ohne Weiteres sitzen.«
»Bitte nicht insistieren«, sagte Babu Nob Kissin. »Ich für Fußstehen entscheide.« Nachdem er solchermaßen gesprochen hatte, verschränkte er die Arme und postierte sich so, dass weder seine Kleidung noch er selbst mit irgendwelchem Blattwerk in Berührung kam.
»Wie Sie wünschen«, sagte Paulette. »Ich will Sie nicht …« Der Gumashta konnte seine Neugier nicht länger bezähmen und unterbrach sie: »Aber jetzt sagen, nein? Wo Sie waren ganze Zeit? Welche Seite Sie gegangen?«
»Das spielt doch keine Rolle, Babu Nob Kissin.«
»Verstehe.« Der Gumashta kniff die Augen zusammen. »Dann muss stimmen, was alle sagen.«
»Und das wäre?«
»Ich nicht will schmutzige Wäsche waschen, Miss Lambert, aber alle sagen, Sie frönen schlechtes Betragen und jetzt sind in anderen Umständen. Deswegen Sie verschwinden.«
»In was für Umständen denn?«
»Unsinnige Frage. Sie sagen zu Mrs. Burnham, Brot backt in Ofen, nein?«
Paulette lief feuerrot an und schlug die Hände an die Wangen. »Babu Nob Kissin! Ich habe gar nichts gefrönt und bin in keinerlei Umständen. Sie
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