Das mohnrote Meer - Roman
zurückkommen. Dann stand er wieder vor ihr und drehte verlegen den Saum seines Dhotis zwischen den Fingern.
»Aber Sie hören eins«, sagte er. »Sie vergessen informieren über Eskapade mit Herrn …«
Paulette tupfte sich unter dem Schutz ihres ghūnghat rasch die Augen und stählte ihre Stimme. »Von mir erfahren Sie
nichts, Babu Nob Kissin«, sagte sie. »Weil Sie mir weder Assistenz noch Rekurs angeboten haben.«
Sie hörte ihn schlucken und sah seinen Adamsapfel nachdenklich auf und ab hüpfen. »Kann sein, Rekurs ist da«, murmelte er schließlich. »Aber ist ausgestattet mit viel Fallen und Stricken. Ausführung wird extrem schwierig.«
»Macht nichts, Nob Kissin Babu«, sagte Paulette erwartungsvoll. »Sagen Sie mir, was ist Ihre Idee? Wie kann man sie realisieren?«
Während der Zeit der großen Feste hallte die Stadt vom Lärm der Feiern wider, und die Stille im Lager war umso schwerer zu ertragen. An Divali zündeten die Auswanderer ein paar Lämpchen an, fröhliche Rufe aber hörte man kaum. Man hatte ihnen noch immer nicht gesagt, wann sie weiterreisen würden, und jeden Tag fegte ein neuer Sturm von Gerüchten durch das Lager. Manchmal schien es, als seien Diti und Kalua die Einzigen, die noch daran glaubten, dass das Schiff wirklich kommen und sie fortbringen würde. Von den anderen erklärten immer mehr, man habe sie belogen, das Lager sei eine Art Gefängnis, in das man sie zum Sterben geschickt habe. Ihre Schädel und Skelette würden zerstückelt und an die Hunde der Sahibs verfüttert oder als Fischköder verwendet werden. Oft wurden solche Gerüchte von Leuten verbreitet, die sich ständig außerhalb des Zauns herumdrückten: Händlern, Landstreichern, Straßenkindern und anderen, in denen der Anblick der Girmitiyas eine unersättliche Neugierde weckte. Stundenlang standen sie dort, beobachteten die Auswanderer, zeigten auf sie und starrten sie an wie Tiere im Käfig. Manchmal versuchten sie, sie zu ködern: »Warum lauft ihr nicht weg? Kommt, wir verhelfen euch zur Flucht. Die warten doch nur darauf, dass ihr sterbt, damit sie eure Leichen verkaufen können.«
Floh einer der Auswanderer aber tatsächlich, waren es dieselben Leute, die ihn ins Lager zurückbrachten. Der Erste, der es versuchte, war ein grauhaariger, geistig verwirrter Mann mittleren Alters aus Ara. Kaum hatte er den Zaun durchbrochen, packten sie ihn, fesselten seine Hände und zerrten ihn vor den Dafadar, von dem sie eine nette kleine Belohnung für ihre Mühe erhielten. Der verhinderte Flüchtling wurde verprügelt und bekam zwei Tage lang nichts zu essen.
Das feuchtheiße Klima der Stadt machte alles noch schlimmer, denn viele wurden krank. Einige erholten sich wieder, andere schienen gar nicht mehr gesund werden zu wollen, so entmutigt waren sie vom Warten, von den Gerüchten und dem unguten Gefühl, gefangen gehalten zu werden. Eines Abends fing ein Junge an, irre zu reden. Er war noch sehr jung, hatte aber die aschebedeckten Flechten eines Bettelmönchs, und es hieß, er sei von einem Sadhu entführt und verkauft worden. Als das Fieber von ihm Besitz ergriff, wurde sein Körper glühend heiß, und aus seinem Mund strömten grauenvolle Laute und Verwünschungen. Kalua und einige andere Männer wollten Hilfe holen, aber die Sardars und Mistris tranken Toddy und beachteten sie nicht. Vor Tagesanbruch brach der Junge zum letzten Mal in Schreie und Flüche aus, dann erkaltete sein Körper. Sein Tod erregte weit mehr Interesse bei den Aufsehern als seine Krankheit. Ungewohnt prompt sorgten sie dafür, dass sein Leichnam fortgeschafft wurde, zur Einäscherung am nahe gelegenen Verbrennungsghat, wie sie sagten – aber wusste man das so genau? Keiner der Girmitiyas durfte das Lager verlassen, um zu sehen, was weiter geschah, und so konnte niemand widersprechen, als einer der Händler ihnen durch den Zaun zuflüsterte, der Junge sei keineswegs verbrannt worden. Man habe ein Loch in seinen Schädel gebohrt und
ihn an den Füßen aufgehängt, um das Öl – das mimiāikā-tel – aus seinem Gehirn abzuzapfen.
Um den Gerüchten und bösen Omen entgegenzuwirken, sprachen die Auswanderer oft von den Andachten, die sie am Tag vor ihrer Abreise verrichten wollten: von pujā s und namāz -Gebeten, von Lesungen aus dem Koran, den Ramcharitmanas, und dem Alha-Khand. Voller Eifer redeten sie von diesen Ritualen, als sei der Anlass ein Grund zu großer Vorfreude. Sie taten es jedoch nur deshalb, weil die Angst vor der Abreise so
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