Das mohnrote Meer - Roman
gewesen, ihren Wert zu erkennen.
Der Tag für das Auslaufen der Ibis war nicht willkürlich festgesetzt, sondern von einer Laune der Gezeiten bestimmt worden. Wie so oft fiel Divali auch in diesem Jahr fast genau auf die Herbst-Tagundnachtgleiche. Das hätte für das Auslaufen der Ibis keine Bedeutung gehabt, wäre da nicht eine gefährliche
Besonderheit der Wasserwege Bengalens gewesen, nämlich die bān oder Bore – eine Gezeitenwelle, die sich als kammartige Wasserwand von der Küste flussaufwärts bewegt. Diese Sprungwellen sind nie gefährlicher als in der Zeit um Holi und Divali, wenn sich die Jahreszeiten um den Angelpunkt des Äquinoktiums drehen. In diesen Zeiten können die Wellen enorme Höhen und hohe Geschwindigkeiten erreichen. Von einer solchen Welle hing es ab, wann die Ibis den Anker lichten würde: Da das Ereignis rechtzeitig vorher angekündigt worden war, hatte man beschlossen, dass der Schoner die Bore an seinem Ankerplatz abwettern sollte. Die Passagiere würden dann tags darauf an Bord kommen.
Auf dem Fluss begann der Tag mit der Warnung des Hafenmeisters, dass die Bore etwa bei Sonnenuntergang eintreffen werde. Von diesem Moment an herrschte reges Treiben an den Ufern: Fischer zogen mit vereinten Kräften ihre Dingis, Pansaris und sogar die leichteren Panshois aus dem Wasser und trugen sie das Ufer hinauf, dorthin, wo der Fluss sie nicht erreichen konnte. Patelas, Badgeros und andere Flussboote, die zu schwer waren, um aus dem Wasser gehoben zu werden, wurden in sicheren Abständen vertäut, während Briggs, Brigantinen, Schoner und andere Seeschiffe ihre Segel abschlugen.
Während seines Aufenthalts in Kalkutta hatte Zachary sich zweimal unter die Schaulustigen am Flussufer gemischt, um zuzusehen, wie die Bore vorbeirauschte. Er hatte gelernt, auf das ferne Grummeln zu achten, das die Ankunft der Welle ankündigte, hatte gesehen, wie das Wasser sich jäh zu einer hohen, donnernden Woge mit einer wehenden weißen Mähne auftürmte, hatte ihr nachgeschaut, wie sie, sich abflachend, braun und brodelnd flussaufwärts raste, als sei sie hinter einem leichtfüßigen Beutetier her. Wie die am Ufer aufgereihten
Straßenjungen hatte auch er gejubelt und gebrüllt, ohne genau zu wissen, warum, und sich hinterher wie alle anderen seiner Aufregung ein wenig geschämt – denn schon nach wenigen Minuten strömte das Wasser wieder ruhig dahin, als sei nichts geschehen.
Obwohl Zachary diese Wellen also nicht fremd waren, hatte er sie doch noch nie an Bord eines Schiffes erlebt. Mr. Crowle hingegen besaß reiche Erfahrung im Umgang mit Bores und Springfluten. Auf dem Irrawadi und dem Hooghly hatte er manch eine davon abgeritten. Der Kapitän betraute ihn mit den Vorbereitungen und blieb selbst in seiner Kajüte. Erst am späten Nachmittag, so ließ er verlauten, werde er an Deck kommen. Doch dann ging etwa eine Stunde bevor die Bore erwartet wurde eine Nachricht von Mr. Burnham ein: Der Kapitän möge sich wegen dringender Geschäfte unverzüglich in sein Büro in der Stadt verfügen.
Wenn der Kapitän ans Ufer gebracht werden musste, wurde er normalerweise von einem Tindal in der Gig an Land gerudert, einem kleinen, für den Kapitän reservierten Beiboot, das stets am Heck vertäut war, wenn der Schoner vor Anker lag. An diesem Tag war die Ibis jedoch unterbemannt, weil viele aus der Mannschaft noch an Land waren; die einen mussten sich von den Feiern vor dem Auslaufen erholen, die anderen trafen Vorbereitungen für die lange Zeit, die sie auf See sein würden. Da er jeden Mann dafür brauchte, das Schiff auf die Flutwelle vorzubereiten, ging Zachary zu Mr. Crowle und bot ihm an, den Kapitän selbst an Land zu rudern.
Er hatte das gesagt, ohne lange zu überlegen, aber kaum war es ausgesprochen, bereute er es schon, denn Mr. Crowle kam ins Grübeln, und seine Miene verdüsterte sich zusehends.
»Nun, was meinen Sie, Mr. Crowle?«
»Was ich meine? Das kann ich Ihnen sagen, Grünschnabel:
Ich meine, der Skipper hat’s nicht nötig, alles Mögliche mit Ihnen zu bequatschen. Wenn er gerudert werden muss, dann mach ich das am besten selber.«
Zachary trat von einem Fuß auf den anderen. »Sicher. Wie Sie meinen, Mr. Crowle. Ich wollte nur behilflich sein.«
»Behilflich? Wem ist denn geholfen, wenn Sie dem Skipper die Ohren vollsabbern? Sie bleiben da, wo Sie gebraucht werden, und sehen zu, dass alles richtig läuft.«
Die Laskaren spitzten bereits die Ohren, und Zachary machte dem Gespräch ein
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