Das mohnrote Meer - Roman
tief saß, dass sie nicht in Worte zu fassen war – ein Gefühl, bei dem man sich am liebsten in eine Ecke gekauert, die Arme um die Knie geschlungen und laut vor sich hin geredet hätte, um die Stimmen im eigenen Kopf zu übertönen. Da war es leichter, von den Einzelheiten der Rituale zu sprechen, sie bis ins Kleinste zu planen und sie immer wieder mit früheren pūjā s, namāz -Gebeten und Lesungen zu vergleichen.
Als der Tag endlich herankam, war alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Einziges Anzeichen ihrer Abreise war die plötzliche Ankunft des Gumashtas Nob Kissin Babu im Lager. Er eilte in die Hütte der Aufseher und blieb dort eine Weile, dann riefen die Sardars und Mistris alle zusammen, und schließlich verkündete Ramsaranji, der Dafadar, dass für ihn die Zeit gekommen sei, von ihnen Abschied zu nehmen. Von jetzt an würden sie, bis sie Marich erreichten und einer Plantage zugewiesen würden, unter der Obhut anderer Wachen, Aufseher und Oberaufseher stehen. Diese Mannschaft befinde sich schon auf dem Schiff und habe dafür gesorgt, dass es bereit sei, sie aufzunehmen; sie selbst würden morgen an Bord gehen. Zum Schluss wünschte er ihnen Glück und Frieden in ihrer neuen Heimat und sagte, er werde zum Gott der Überfahrten darum beten, sie zu beschützen: Jay hanumān gyān gun s āgar …
Im Gefängnis von Alipur waren die Feste der Jahreszeit mit großem Trara gefeiert worden. Vor allem Divali bot den Jemadars und ihrem Gefolge Gelegenheit, sich mit Lichtspielen gegenseitig zu übertreffen, und in vielen der Innenhöfe des Gefängnisses waren Lampen und improvisierte Wunderkerzen entzündet worden. Der Lärm, das Essen und die Feiern hatten bei Nil eine seltsame Reaktion ausgelöst: Ganz plötzlich war sein Lebenswille, den er sich bis dahin bewahrt hatte, zusammengebrochen. Am Divali-Abend konnte er sich nur mit Mühe von seiner chārpāī erheben und brachte es nicht über sich, die Zelle zu verlassen. Er war mit den Gedanken bei seinem Sohn, bei den Feuerwerken vergangener Jahre und der Düsternis, Stille und Verweigerung, die diesmal das Los des Jungen sein würden.
In den folgenden Tagen versank er immer tiefer in seiner Schwermut, und als Bishuji kam und ihm mitteilte, dass der Tag des Abtransports jetzt feststehe, fragte er verwirrt: »Wohin werden wir gebracht?«
»Nach Marich. Hast du das vergessen?«
Nil rieb sich mit dem Handballen die Augen. »Und wann ist es so weit?«
»Morgen. Das Schiff liegt bereit.«
»Morgen?«
»Ja. Ihr werdet früh abgeholt. Mach dich bereit. Und sag es auch Afat.«
Das war alles. Nachdem er gesagt hatte, was zu sagen war, machte Bishuji kehrt und entfernte sich. Nil wollte sich gerade wieder auf seine chārpāī legen, als er merkte, dass die Augen seines Zellengenossen auf ihm ruhten, so als wollte er ihm eine Frage stellen. Viele Tage waren vergangen, seit Nil zum letzten Mal das Ritual vollzogen hatte, seinen Mithäftling nach seinem Namen zu fragen, doch jetzt raffte er sich auf und
sagte auf Englisch: »Wir fahren morgen. Das Schiff liegt bereit. Sie holen uns früh am Morgen ab.« Die Augen des Mannes weiteten sich ein wenig, doch sonst reagierte er nicht, und so zuckte Nil die Achseln und drehte sich zur Wand.
Da der Abtransport nun unmittelbar bevorstand, kehrten Bilder und Erinnerungen zurück, die Nil bislang abgewehrt hatte: Erinnerungen an Elokeshi, an sein Haus, an seine Frau, die keinen Mann mehr hatte, und an seinen vaterlosen Sohn. Wenn er eindöste, suchte ihn ein Albtraum heim, in dem er sich als Ausgesetzter sah, mutterseelenallein in der dunklen Leere des Ozeans, jeder menschlichen Bindung beraubt. Er spürte, dass er ertrinken würde, und begann, mit den Armen zu rudern, um sich ans Licht zu kämpfen.
Als er aufwachte, saß er auf der chārpāī , im Dunkeln. Nach und nach merkte er, dass ihm jemand den Arm um die Schultern gelegt hatte und ihn festhielt, wie um ihn zu trösten. In dieser Umarmung lag eine Intimität, wie er sie nie zuvor erlebt hatte, auch nicht mit Elokeshi, und als eine Stimme an sein Ohr drang, war es, als käme sie aus ihm selbst: »Mein Name Lei Leong Fatt«, sagte sie. »Leute nennen ›Ah Fatt‹. Ah Fatt dein Freund.« Diese zaghaften, kindlichen Worte waren trostreicher als alle Gedichte, die Nil je gelesen hatte, und auch überraschender, denn noch nie hatte jemand sie zu ihm gesagt – und selbst wenn, dann wären sie an ihn verschwendet gewesen, denn er wäre nicht imstande
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