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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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schweren Last nur mühsam dahinschleppt. Angesichts dieser vielgestaltigen Verkleidung war sie einigermaßen sicher gewesen, dass nicht einmal Jodu, der sie besser kannte als irgendjemand sonst, Verdacht schöpfen würde. Doch offenbar war alles umsonst gewesen, denn kaum hatte er sie erblickt, noch dazu aus so großer Entfernung, hatte er schon zu winken angefangen. Was sollte sie jetzt tun?

    Paulette war überzeugt, dass Jodu entweder aus falsch verstandener brüderlicher Fürsorge oder aufgrund der ewigen Rivalität in ihrer quasi geschwisterlichen Beziehung nichts unversucht lassen würde, um sie von der Ibis fernzuhalten. Wenn er sie tatsächlich bereits erkannt hatte, konnte sie genauso gut gleich umkehren. Mit diesem Gedanken machte sie sich gerade vertraut, als Munia sie bei der Hand nahm. Da sie ungefähr gleichaltrig waren, hatten die beiden Mädchen sich auf dem Boot zueinander hingezogen gefühlt; jetzt, im Begriff, das Fallreep zu erklimmen, flüsterte Munia ihr ins Ohr: »Siehst du ihn, Paggli? Er winkt mir von da oben zu.«
    »Wer? Wen meinst du?«
    »Den Laskaren da oben – er ist verrückt nach mir. Siehst du ihn? Er hat meinen Sari wiedererkannt.«
    »Also kennst du ihn?«, fragte Paulette.
    »Ja. Er hat uns im Ruderboot ins Lager gebracht, als wir nach Kalkutta gekommen sind. Er heißt Azad Laskar.«
    »Was du nicht sagst. Azad Laskar?«
    Paulette lächelte. Sie hatte das Fallreep schon zur Hälfte erklommen und wandte nun, um ihre Verkleidung noch zusätzlich zu prüfen, das Gesicht nach oben, sodass sie Jodu durch ihren ghūnghat hindurch direkt ansah. Er hing in den Wanten wie früher in den hohen Bäumen des Botanischen Gartens, in denen sie zusammen herumgeturnt waren. Sie beneidete ihn: Wie gern wäre sie mit ihm zusammen dort oben gewesen; stattdessen stand sie hier auf diesem Fallreep, von Kopf bis Fuß vermummt, während er sich frank und frei an der frischen Luft bewegte. Und was das Schlimmste war: Sie war immer der bessere Kletterer von beiden gewesen. Von den Mistris empfangen, stieg sie an Deck und schaute noch einmal nach oben, trotzig, als wollte sie ihn auffordern, sie zu enttarnen – doch er hatte nur Augen für ihre Gefährtin, die
sich kichernd bei ihr unterhakte: »Na, was hab ich dir gesagt? Er ist verrückt nach mir. Wenn ich wollte, könnte ich ihn dazu bringen, auf den Händen zu gehen.«
    »Und, warum machst du’s nicht?«, neckte Paulette sie. »Er sieht aus, als könnte er die eine oder andere Lektion gut gebrauchen.«
    Munia kicherte und schaute wieder hinauf. »Wart’s ab.«
    »Vorsicht, Munia«, zischte Paulette. »Alle schauen zu uns her.«
    Das stimmte. Nicht nur die Laskaren und Bootsleute und Mistris, sondern auch Kapitän Chillingworth, der mit verschränkten Armen auf der Luvseite des Achterdecks stand. Als Paulette und Munia näher kamen, spitzte der Kapitän voller Abscheu die Lippen.
    »Wissen Sie was, Doughty?«, sagte er im Tonfall dessen, der sich an einen Gleichgesinnten wendet. »Der Anblick dieser elenden Kreaturen lässt mich an die guten alten Zeiten denken, an der Küste von Guinea. Schauen Sie sich bloß diese Vogelscheuchen an.«
    »Da sagen Sie was«, polterte der Lotse, der am Ruder stand. »Ein Haufen gerupfter Hühner, wenn Sie mich fragen.«
    »Die Alte da, zum Beispiel«, sagte der Kapitän und sah direkt auf Paulettes verschleiertes Gesicht. »Eine ausgediente Schnepfe – oft gezaust und nie gefreit! Wieso in aller Welt macht die noch die weite Reise? Was soll die denn drüben tun – eine Vettel, die weder eine Last tragen noch ein Bett wärmen kann?«
    »Eine Schande ist das«, pflichtete ihm Mr. Doughty bei. »Und krank ist sie bestimmt auch noch. Womöglich steckt sie die ganze Herde an.«
    »Ganz meine Meinung, Doughty. Es wäre ein Akt der Barmherzigkeit, ihr den Garaus zu machen. Dann blieben ihr
wenigstens die Strapazen der Reise erspart. Wozu eine brennende Fregatte noch abschleppen?«
    »Und Proviant wäre auch gespart. Ich wette, die frisst für drei, das kennt man doch von diesen alten Schachteln.«

    Und wer tauchte genau in diesem Moment vor Paulette auf? Kein anderer als Zachary. Auch er schaute direkt in ihren ghūnghat , sodass sie das Mitleid in seinen Augen sehen konnte, als er die gebückte Gestalt der vermeintlich alten Frau vor sich sah. »Ein Schiff ist kein Ort für eine Frau«, hatte er einmal gesagt: Wie selbstgefällig er da gewirkt hatte, genau wie jetzt mit seinem gönnerhaften Mitgefühl; es war, als

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