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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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auch die Fremde ihren Sari zurück und enthüllte ein langes, fein geschnittenes Gesicht, in dem sich Unschuld und Intelligenz, Sanftmut und Entschlossenheit vereinten. Ein zartgoldener Schimmer lag auf ihrer Haut, wie bei der verwöhnten Tochter eines Dorf-Pandits, einem Kind, das keinen Tag in seinem Leben auf dem Feld hat arbeiten und nie die Glut der Sonne hat ertragen müssen.
    »Wo fährst du hin?«, fragte Diti. Sie fühlte eine solche Vertrautheit mit der Fremden, dass sie nicht zögerte, sie auf Bhojpuri anzusprechen.
    Das Mädchen antwortete in einem verstädterten Hindi: »Dorthin, wo ihr hinfahrt …«
    »Aber du bist keine von uns«, sagte Diti.
    »Jetzt schon.« Das Mädchen lächelte.
    Diti wagte sie nicht direkt zu fragen, wer sie sei, und wählte deshalb den Umweg, ihren eigenen Namen und die der anderen
zu nennen: Munia, Hiru, Sarju, Champa, Ratna und Dukhani.
    »Ich heiße Putleshvari«, sagte das Mädchen darauf, und als sich alle fragten, wie sie diesen bengalischen Zungenbrecher aussprechen sollten, kam sie ihnen zu Hilfe und fügte hinzu: »Aber mein Spitzname ist Paggli. So werde ich genannt.
    »Paggli?«, fragte Diti lächelnd. »Du kommst mir gar nicht verrückt vor.«
    »Weil du mich noch nicht kennst«, sagte das Mädchen freundlich lächelnd.
    »Und wie kommt es, dass du mit uns fährst?«
    »Babu Nob Kissin, der Gumashta, ist mein Onkel.«
    »Ah! Hab ich mir’s doch gedacht«, sagte Diti. »Du bist die Tochter eines Brahmanen. Aber wohin fährst du?«
    »Zur Insel Marich, wie ihr.«
    »Aber du bist doch keine Girmitiya. Wieso willst du an so einen Ort?«
    »Mein Onkel hat eine Heirat für mich arrangiert, mit einem Mistri, der auf einer Plantage arbeitet.«
    »Eine Heirat?« Diti wunderte sich, dass man einer Heirat wegen übers Meer fuhr wie ins nächste Dorf flussabwärts. »Hast du denn keine Angst«, fragte sie, »deine Kaste zu verlieren? Übers Schwarze Wasser zu fahren und mit so vielen verschiedenen Leuten auf einem Schiff zu leben?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete das Mädchen im Brustton der Überzeugung. »Auf einem Pilgerschiff kann man seine Kaste nicht verlieren, da sind alle gleich. Das ist, wie wenn man mit dem Schiff zum Shri-Jagannath-Tempel in Puri fährt. Von jetzt an und für immer sind wir Schiffsgeschwister, und es gibt keine Unterschiede mehr zwischen uns.«
    Das war eine so kühne, so geschickte Antwort, dass es den Frauen die Sprache verschlug. Diti wusste, dass sie ihr Leben
lang hätte nachdenken können und doch auf keine so vollendete, so befriedigende und in ihren Möglichkeiten so aufregende Antwort verfallen wäre. In diesem besonderen Moment tat sie etwas, das sie sonst nie getan hätte: Sie nahm die Hand der Fremden in ihre. Und sogleich ahmten auch alle anderen Frauen ihre Geste nach, streckten die Hand aus und schlossen sich dieser Gemeinschaft der Berührung an. »Ja«, sagte Diti, »von jetzt an gibt es keine Unterschiede mehr zwischen uns, wir sind jahāz-bhāī und jahāz-bahin ; alle sind wir Kinder des Schiffes.«
    Irgendwo draußen rief eine Männerstimme: »Da ist es! Das Schiff – unser jahāz …«
    Und da war es, in einiger Entfernung, mit seinen zwei Masten und dem großen schnabelförmigen Bugspriet. Als Diti es sah, wusste sie, warum ihr an jenem Tag, als sie im Wasser des Ganges stand, das Bild des Schiffes erschienen war: weil während der ganzen Zeit ihr neues Selbst, ihr neues Leben im Bauch dieses Wesens geruht hatte, dieses Schiffes, das Mutter und Vater ihrer neuen Familie war, ein Adoptiv-Vorfahr und Stammvater künftiger Dynastien. Da war sie, die Ibis .

    Von seinem Platz hoch oben auf der Saling des Fockmasts hatte Jodu einen Blick, wie er ihn sich schöner nicht wünschen konnte: die Kais, der Fluss und der Schoner lagen unter ihm ausgebreitet wie Schätze auf dem Tresen eines Geldverleihers, die darauf warten, gewogen und taxiert zu werden. An Deck trafen der Subedar und seine Männer geschäftig Vorbereitungen für das Einschiffen der Sträflinge und Auswanderer. Und auch die Laskaren hatten alle Hände voll zu tun: Sie schossen Taue auf, rollten und verzurrten Fässer, sperrten Vieh in Käfige und stapelten und sicherten Kisten, um vor dem Auslaufen klar Schiff zu machen.

    Die Häftlinge kamen zuerst an Bord, eine Viertelstunde vor den Auswanderern. Das Boot, in dem sie gebracht wurden, glich einem Badgero, nur waren alle Bullaugen schwer vergittert. Es sah aus, als könnte es ein kleines Heer von Halsabschneidern

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