Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
Beine zusammenzupressen, womöglich über das Deck gerannt wäre, um sich zwischen Nil und die wirbelnde lāthī des Subedars zu werfen. Und konnte es Zufall sein, dass just in diesem Augenblick Zachary vortrat, dem Subedar Einhalt gebot und den Sträfling durch sein Wiedererkennen segnete? Es war, als seien zwei Aspekte von Taramonys Fähigkeit zu fraulicher Liebe in Konjunktion gebracht
worden: der einer Mutter, die sich danach sehnt, einen verirrten Sohn zu nähren, und der einer Sucherin, die sich danach verzehrt, die Dinge dieser Welt hinter sich zu lassen.
    Der Anblick der Begegnung zwischen diesen zwei Wesen, die beide innere Wahrheiten in sich bargen, die nur ihm, Babu Nob Kissin, bekannt waren, war so bewegend, dass er die schon lange sich ankündigende Eruption tatsächlich in Gang brachte: Das Grollen in den Eingeweiden des Gumashtas glich jetzt dem geschmolzener Lava, und nicht einmal die Angst vor Peinlichkeit konnte ihn noch daran hindern, auf dem schnellsten Weg die Latrine aufzusuchen.

    Tagsüber, wenn jeder die Schiffsbewegungen im Magen spürte, waren Hitze und Gestank im Laderaum nur zu ertragen, weil man wusste, dass mit jeder Minute das Ende der Reise näher rückte. Lag der Schoner aber nachts irgendwo im Dschungel vor Anker, gab es diesen Trost nicht. Wenn in der Nähe Tiger brüllten und Leoparden husteten, überfielen selbst die Gelassensten unter den Auswanderern wilde Fantasien. Und es fehlte auch nicht an Leuten, die Gerüchte in die Welt setzten und die anderen gegeneinander aufhetzten. Der Schlimmste von ihnen war Jhugru, den man als ewigen Unruhestifter aus seinem Dorf verbannt hatte. Sein Gesicht mit dem schiefen vorspringenden Kinn und den kleinen blutunterlaufenen Augen war so hässlich wie sein Charakter, aber er hatte eine flinke Zunge und eine schnelle Auffassungsgabe, die ihm unter den Jüngeren, Leichtgläubigeren der Girmitiyas eine gewisse Autorität verschafften.
    In der ersten Nacht, als niemand schlafen konnte, erzählte Jhugru von den Dschungeln in Marich und behauptete, die Jüngeren und Schwächeren der Auswanderer würden dort als Köder für die wilden Tiere benutzt, die in diesen Wäldern lebten.
Seine Stimme schallte durch den ganzen Laderaum und versetzte die Frauen in Furcht und Schrecken, vor allem Munia, die in Tränen ausbrach.
    In der stickigen Hitze wirkte ihre Angst wie ein Fieber, das bald auf die übrigen Frauen übergriff. Eine nach der anderen brach zusammen, und Paulette machte sich klar, dass sie schnell handeln musste, wenn sie die Panik eindämmen wollte. »Seid still!«, rief sie laut. »Hört zu! Hört mir zu! Was der Mann da erzählt, ist alles Unsinn. Glaubt ihm seine Geschichten nicht, sie sind nicht wahr. In Marich gibt es keine wilden Tiere, nur Vögel, Frösche und ein paar Ziegen, Schweine und Rehe, und die meisten von ihnen sind von den Menschen dort eingeführt worden. Und Schlangen gibt es auf der ganzen Insel nicht.«
    »Keine Schlangen!«
    Diese nachdrückliche Erklärung tat ihre Wirkung: Das Weinen hörte auf, und viele Köpfe, auch Jhugrus, wandten sich Paulette zu. An Diti war es, die Frage zu stellen, die alle beschäftigte: »Keine Schlangen? Gibt es so einen Dschungel überhaupt?«
    »Ja, solche Dschungel gibt es«, antwortete Paulette. »Hauptsächlich auf Inseln.«
    Das konnte Jhugru nicht unwidersprochen lassen. »Woher willst du das wissen?«, fragte er. »Du bist doch bloß eine Frau – wer soll dir da schon glauben?«
    »Ich weiß es, weil ich es in einem Buch gelesen habe«, erwiderte Paulette ruhig. »Ein Buch von einem Mann, der sich damit auskannte und lange in Marich gelebt hat.«
    »Ein Buch?« Jhugru lachte höhnisch. »Das Miststück lügt doch. Woher soll eine Frau wissen, was in einem Buch steht?«
    Das reizte Diti, und sie konterte: »Wieso sollte sie kein Buch lesen können? Sie ist die Tochter eines Pandits; ihr Vater hat ihr das Lesen beigebracht.«

    »Lügnerinnen und Schlampen seid ihr!«, schrie Jhugru. »Ihr solltet euch den Mund mit Kuhmist auswaschen!«
    »Wie bitte?« Kalua erhob sich langsam, den Kopf gesenkt, um nicht an die Decke zu stoßen. »Wie hast du meine Frau genannt?«
    Als Kaluas hünenhafte Gestalt vor ihm aufragte, zog Jhugru sich in ein mürrisches, rachsüchtiges Schweigen zurück, und seine Anhänger gesellten sich nach und nach zu der Gruppe um Paulette. »Stimmt das? Es gibt dort keine Schlangen? Was für Bäume wachsen in Marich? Gibt es dort Reis? Wirklich?«

    Auch Nil, auf der

Weitere Kostenlose Bücher