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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Laderaum verließen, wurden alle, die den Niedergang hinaufstiegen, von einer seltsamen Trübsal befallen. Kaum setzten sie den Fuß auf die letzte Stufe, erstarrten sie und mussten von den Nachfolgenden weitergeschoben werden. Wie laut und ungeduldig die Stimmen unten auch ertönten – alle hielten betroffen inne, als sie einer nach dem anderen das Hauptdeck betraten, selbst jene, die eben noch die Tollpatsche beschimpft hatten, die alle anderen aufhielten. Als Diti aus der Luke auftauchte, befiel die Krankheit auch sie. Denn da war es, direkt vor dem Bug des Schoners: das Schwarze Wasser.
    Der Wind war abgeflaut, kein einziger weißer Fleck war auf dem Meer zu sehen, und in der gleißenden Nachmittagssonne war das Wasser so dunkel und still wie die Schatten im Schlund eines Abgrundes. Auch Diti schaute wie betäubt auf die Fläche hinaus. Man konnte kaum glauben, dass es Wasser war, denn hatte Wasser nicht eine Grenze, einen Rand, eine Küste, die ihm seine Form gab und es fest hielt? Das hier aber war ein Firmament, gleich dem Nachthimmel, an dem das
Schiff schwebte wie ein Planet oder ein Stern. Als Diti wieder auf ihrer Matte lag, hob sich ihre Hand wie von selbst, und sie zeichnete das Bild, das sie vor vielen Monaten für Kabutri gezeichnet hatte: ein geflügeltes Schiff, das übers Wasser flog. Damit war die Ibis das zweite Bild, das in Ditis Schiffsschrein einzog.

ACHTZEHNTES KAPITEL
    B ei Sonnenuntergang ankerte die Ibis in Saugor Roads, wo die Auswanderer einen letzten Blick auf die heimatliche Küste werfen konnten. Es war ein viel benutzter Ankerplatz an der Leeküste von Ganga-Sagar, der Insel zwischen dem Meer und dem heiligen Fluss. Mit Ausnahme von Schlickbänken und den Wimpeln einiger Tempel gab es dort von der Ibis aus wenig zu sehen. Die Menschen im Dämmer des Laderaums sahen gar nichts, doch allein schon der Name Ganga-Sagar, der Fluss und Meer, Hell und Dunkel, Bekanntes und Verborgenes zusammenführte, erinnerte sie an den gähnenden Abgrund, der vor ihnen lag. Es war, als säßen sie am Rand einer tiefen Schlucht, und die Insel wäre der ausgestreckte Arm Jambudvipas, ihrer Heimat, der sie davor bewahrte, ins Leere zu stürzen.
    Die Nähe dieser letzten Landzunge versetzte auch die Mistris in Unruhe, und am Abend, als die Auswanderer zum Essen an Deck kamen, waren sie noch wachsamer als sonst. Mit ihren Stöcken in der Hand postierten sie sich am Schanzkleid, und jeder der Auswanderer, der zu lange zu den fernen Lichtern hinübersah, wurde augenblicklich in den Laderaum zu rückgescheucht. »Da gibt’s nichts zu sehen, sālā . Mach, dass du runterkommst, wo du hingehörst …«
    Doch auch wenn die Insel aus dem Blickfeld der Auswanderer verschwand – in ihren Köpfen blieb sie haften. Keiner von ihnen hatte sie je zuvor gesehen, und doch war sie den
meisten wohlvertraut. Ruhten nicht auf ihr die Füße Gangas? Sie hatten diesen Ort wie so viele andere Gegenden Jambudvipas in Epen und Puranas, in Mythen, Liedern und Legenden viele Male besucht. Dass die Insel das Letzte war, was sie von ihrer Heimat sehen würden, schuf eine Atmosphäre der Verunsicherung und Aufsässigkeit, in der schon die kleinste Provokation einen Konflikt auslösen konnte. Und wenn ein Streit ausbrach, eskalierte er mit einer Geschwindigkeit, die alle verblüffte, auch die Streithähne selbst. In ihren Dörfern hatten Verwandte, Freunde und Nachbarn schlichtend eingegriffen, hier aber gab es keine Ältesten, keine Stammesgemeinschaft und keine Angehörigen, die einen Mann daran hinderten, seinem Gegner an die Gurgel zu gehen. Dafür gab es Unruhestifter wie Jhugru, die stets darauf aus waren, Mann gegen Mann, Freund gegen Freund, Kaste gegen Kaste aufzubringen.
    Bei den Frauen kreisten die Gespräche um die Vergangenheit, um die kleinen Dinge, die sie nie wieder sehen, hören und riechen würden: die Farbe der Mohnblüten, die die Felder überschwemmte wie abīr bei einem verregneten Holi-Fest, den durchdringenden Geruch der Kochfeuer, der über die Felder zog und von einer Hochzeit in einem fernen Dorf kündete, die Tempelglocken bei Sonnenuntergang und den abendlichen Ruf zum Gebet, die langen Abende im Hof, wo man den Geschichten der Alten lauschte. So hart das Leben zu Hause auch gewesen sein mochte – in der Asche jeder Vergangenheit glommen warme Erinnerungen auf, eine Glut, die nun neu angefacht wurde und in deren Licht es unfassbar erschien, dass man im Bauch eines Schiffes saß, das im Begriff stand, in

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