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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Callynat-Babus Schülerin, und er hat mir manchmal ein paar Seiten zum Abschreiben gegeben. Die habe ich gelesen.«

    Kein Wort von Paulettes Erklärung überzeugte Nil, aber er wusste nicht, wie er sie widerlegen sollte. »Darf ich mir erlauben«, fragte er schließlich, »die Dame nach dem Namen Ihrer Familie zu fragen?«
    Paulette hatte die Antwort schon parat. »Wäre es nicht unerträglich voreilig«, sagte sie höflich, »nach solch kurzer Bekanntschaft bereits ein so intimes Thema anzusprechen?«
    »Wie Ihnen beliebt. Ich werde nichts mehr sagen, nur dass Sie Ihre Zeit verschwenden, wenn Sie diese Flegel und Bauerntölpel zu erziehen versuchen. Genauso gut können sie in ihrer Unwissenheit verrotten, denn verrotten werden sie ohnehin.«
    Paulette hatte die ganze Zeit so gesessen, dass sie den Sträfling nicht ansehen musste. Sein arroganter Ton aber ärgerte sie, und so wandte sie ihm ihr mit dem ghūnghat verschleiertes Gesicht zu und ließ ihren Blick langsam zu der Öffnung hinaufwandern. Im Dämmer des Laderaums konnte sie jedoch nicht mehr sehen als ein tief in einem stoppeligen Gesicht liegendes, glühendes Augenpaar. Ihr Ärger wich einer Art Mitleid, und sie sagte leise: »Wenn Sie so gescheit sind, was machen Sie dann hier? Wenn eine Panik oder ein Aufruhr ausbräche, glauben Sie, Ihre Bildung würde Sie dann retten? Haben Sie noch nie die Redensart gehört: Wir sitzen alle im selben Boot?«
    Nil musste laut lachen. »Doch«, sagte er triumphierend, »die habe ich gehört – nur noch nie auf Bengali. Das ist eine englische Redensart, und Sie haben sie übersetzt – sehr hübsch, wenn ich das sagen darf –, aber da drängt sich natürlich die Frage auf, wo und wie Sie die englische Sprache erlernt haben.«
    Paulette wandte sich ab, ohne zu antworten, doch er beharrte: »Wer sind Sie, Verehrteste? Sie können es mir ruhig sagen. Ich finde es ja doch heraus.«

    »Ich bin nicht Ihresgleichen«, sagte Paulette scharf. »Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.«
    »In der Tat nicht«, erwiderte er spöttisch – denn Paulettes letzte Worte hatten gerade genug von den Zischlauten der Uferbewohner enthalten, um das Rätsel zu lösen. Elokeshi hatte ihm einmal von einer neuen Kategorie von Prostituierten erzählt, die von ihren weißen Freiern Englisch gelernt hatten. Eine solche hatte er zweifellos vor sich, unterwegs in ein Bordell auf der Insel.

    Der Platz, den Diti und Kalua für sich gewählt hatten, lag unter einem der mächtigen Balken, die sich über das Zwischendeck wölbten. Diti schob ihre Matte ganz an den Rand, sodass sie sich im Sitzen an die Bordwand lehnen konnte. Legte sie sich aber hin, war der Balken nur eine Armeslänge von ihrem Kopf entfernt, und ein Moment der Unachtsamkeit konnte ihr eine schmerzhafte Beule eintragen. Nachdem sie sich mehrmals die Stirn angeschlagen hatte, bewegte sie sich vorsichtiger, und bald darauf war sie dankbar für den Schutz, den der Balken bot. Er war wie ein väterlicher Arm, der sie hielt, während ringsum alles immer unsicherer wurde.
    Nie war Diti dankbarer für den Balken als in den ersten Tagen der Reise, als sie sich noch nicht an die Bewegung des Schiffes gewöhnt hatte. Sie konnte sich daran festhalten und fand heraus, dass ihr Kopf sich weniger drehte, wenn sie den Blick auf das Holz gerichtet hielt. So wurde ihr trotz des Halbdunkels im Laderaum dieses Stück Holz so vertraut, dass sie bald seine Maserung wiedererkannte, die Wirbel darin, die kleinen Kratzer von den Fingernägeln jener, die dort gelegen hatten, wo sie jetzt lag. Als Kalua ihr sagte, die beste Medizin gegen die Übelkeit sei es, zum Himmel aufzuschauen, erwiderte sie scharf, er könne schauen, wohin er wolle, sie für ihren
Teil habe allen Himmel, den sie brauche, in dem Holz über ihrem Kopf.
    Sterne und Sternbilder am Nachthimmel hatten Diti von jeher an die Gesichter von Menschen erinnert, die sie kannte oder gekannt hatte, geliebten und gefürchteten. War es dies, oder war es der schützende Balken, der sie nun an den Schrein erinnerte, den sie in ihrem Haus zurückgelassen hatte? Am Morgen des dritten Tages jedenfalls tauchte sie die Spitze ihres Zeigefingers in das Zinnoberrot auf ihrem Scheitel und malte ein kleines Gesicht mit zwei Zöpfen auf das Holz.
    Kalua begriff sofort. »Das ist Kabutri, nicht wahr?«, flüsterte er, und Diti musste ihn mit einem Rippenstoß daran erinnern, dass die Existenz ihrer Tochter ein Geheimnis bleiben musste.
    Als die Auswanderer am Mittag den

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