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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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anderen Seite des Schotts, hörte Paulette aufmerksam zu. Zwar hatte er schon oft und lange durch die Lüftungsöffnung zu den Auswanderern hinübergespäht, doch auf Paulette hatte er nicht weiter geachtet. Wie die anderen Frauen war sie stets verschleiert, und er hatte ihr Gesicht nie gesehen, nur ihre hennadunklen Hände und die altā -roten Füße. Ihre Sprachmelodie hatte ihn vermuten lassen, dass ihre eigentliche Sprache Bengali war und nicht das Bhojpuri der anderen Auswanderer, und ihm war aufgefallen, dass sie mitunter den Kopf neigte, als lauschte sie seinen Gesprächen mit Ah Fatt – doch das schien absurd. Eine Kulifrau verstand doch wohl kein Englisch?
    Diti war es, die Nils Aufmerksamkeit nun auf Paulette lenkte. Wenn diese Person tatsächlich, wie Diti sagte, Bildung besaß, dann war es so gut wie sicher, dass er ihre Eltern oder Verwandten kannte. Es gab nicht viele bengalische Familien, die ihre Töchter zum Lesen ermunterten, und diese wenigen waren fast alle mit seiner eigenen Familie verwandt. Die Handvoll Frauen in Kalkutta, die Anspruch auf Gelehrsamkeit in irgendeiner Form erheben konnten, waren in seinen Kreisen wohlbekannt, aber seines Wissens hätte keine von ihnen
öffentlich zugegeben, dass sie Englisch sprach – diese Schwelle hatten auch die liberalsten Familien noch nicht überschritten. Und noch etwas gab Nil Rätsel auf: Die gebildeten Frauen der Stadt entstammten fast ausnahmslos wohlhabenden Familien; dass eine von ihnen ihre Tochter mit einer Schiffsladung Kontraktarbeiter und Sträflinge reisen ließ, war undenkbar. Und doch war eine hier – oder wer war das Mädchen sonst?
    Erst als das allgemeine Interesse an Paulette nachgelassen hatte, legte Nil die Lippen an die Lüftungsöffnung und sagte auf Bengali zu ihrem verschleierten Kopf hin: »Wer sich seinen Gesprächspartnern gegenüber so zuvorkommend verhält, hat sicher nichts dagegen einzuwenden, noch eine weitere Frage zu beantworten?«
    Die schmeichelnden Worte und der kultivierte Akzent warnten Paulette augenblicklich. Obwohl sie mit dem Rücken zu der Zelle stand, wusste sie genau, wer da gesprochen hatte, und ihr war sofort klar, dass sie auf die Probe gestellt wurde. Ihr Bengali hatte den – größtenteils von Jodu übernommenen – leicht ordinären Beiklang der Menschen, die am Fluss lebten, das wusste sie, und so wählte sie ihre Worte mit Bedacht. Im Tonfall des Sträflings sagte sie: »Eine Frage kann allemal gestellt werden; sollte eine Antwort darauf möglich sein, wird sie erteilt werden.«
    Ihr Akzent war so neutral, dass er Nil keinerlei weitere Rückschlüsse auf ihre Herkunft erlaubte.
    »Wäre es dann möglich«, fuhr er fort, »den Titel des Buches zu erfahren, von dem vorhin die Rede war, jenes Werks, das einen solch reichen Schatz an Informationen über die Insel Marich enthalten soll?«
    Um Zeit zu gewinnen, antwortete Paulette: »Der Titel ist mir entfallen, aber er tut auch nichts zur Sache.«
    »Ich meine, doch«, sagte Nil. »Ich durchforsche gerade
mein Gedächtnis nach einem Buch in unserer Sprache, das diese Fakten enthalten könnte, aber mir will keins einfallen.«
    »Es gibt viele Bücher auf der Welt«, parierte Paulette. »Niemand kann alle ihre Titel wissen.«
    »Nicht die Titel aller Bücher auf der Welt«, räumte Nil ein, »das ist sicher richtig. Aber die Zahl der in bengalischer Sprache gedruckten Bücher geht nicht über einige Hundert hinaus, und ich konnte mich einmal rühmen, jedes einzelne davon zu besitzen. Daher meine Besorgnis – sollte ich eins übersehen haben?«
    Paulette überlegte rasch und erwiderte: »Das Buch, das ich meine, ist noch gar nicht gedruckt. Es ist eine Übersetzung aus dem Französischen.«
    »Aus dem Französischen? Tatsächlich? Wäre es zu viel verlangt, den Namen des Übersetzers zu erfahren?«
    Paulette war nun völlig durcheinander und nannte den erstbesten Namen, der ihr in den Sinn kam, nämlich den des Munshis, der ihr Sanskrit beigebracht und ihrem Vater bei der Katalogisierung seiner Sammlung geholfen hatte: Callynat-Babu.
    Nil erkannte den Namen sofort. »Tatsächlich? Sie meinen Munshi Callynat Burrell?«
    »Ja, genau den.«
    »Ich kenne ihn gut, er war viele Jahre lang der Munshi meines Onkels. Und ich kann Ihnen versichern, er spricht kein Wort Französisch.«
    »Er selbst natürlich nicht«, erwiderte Paulette geistesgegenwärtig. »Aber er hat mit einem Franzosen zusammengearbeitet: mit Lambert-Sahib vom Botanischen Garten. Ich war

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