Das mohnrote Meer - Roman
einen Abgrund zu stürzen.
Diti schwieg. Was die anderen erzählten, erinnerte sie nur an Kabutri und an alles, was sie nun nicht miterleben würde:
Sie würde ihre Tochter nicht aufwachsen sehen, sie würde keine Geheimnisse mit ihr teilen, ihren Bräutigam nicht empfangen. Wie war es möglich, dass sie bei der Hochzeit ihres Kindes nicht dabei sein, nicht die Klagegesänge anstimmen würde, mit denen Mütter ihre Trauer kundtaten, wenn die Tochter in der Sänfte fortgetragen wurde?
Talwa jharāile
Kāwal kumhlāile
Hanse roye
Birahā biyog
Der Brunnen ist trocken
Der Lotus verwelkt
Der Schwan weint
Um die verlorene Liebe.
In dem zunehmenden Lärm war Ditis Gesang anfangs kaum zu hören, doch als die anderen Frauen ihn vernahmen, stimmten sie nach und nach ein, alle außer Paulette, die sich scheu zurückhielt, bis Diti ihr zuflüsterte: »Es macht nichts, wenn du den Text nicht kennst. Sing einfach mit, sonst wird die Nacht unerträglich.«
Allmählich ertönten die Stimmen der Frauen lauter und selbstbewusster, und die Männer vergaßen ihre Streitigkeiten. Auch zu Hause hatten die Frauen bei den Hochzeiten im Dorf gesungen, wenn die Braut den Armen der Eltern entrissen wurde, und nun war es, als würden die Männer durch ihr Schweigen kundtun, dass ihnen keine Worte zu Gebote standen, den Schmerz des Kindes zu beschreiben, das aus dem Elternhaus verbannt wird.
Kaise kate ab
Birahā ki ratiyā?
Wie wird sie vergehen
Diese Nacht des Abschieds?
Durch die Lüftungsöffnung lauschte Nil den Gesängen der Frauen, und weder da noch später konnte er sich erklären, warum die Sprache, von der er seit drei Tagen umgeben war, nun plötzlich in seinen Kopf strömte wie Wasser nach einem Dammbruch. Entweder Ditis Stimme oder Teile ihrer Lieder riefen ihm in Erinnerung, dass es Bhojpuri war, die Sprache, in der Parimal in seiner Kindheit mit ihm gesprochen hatte, bis sein Vater einschritt. Das Glück der Halders, hatte der alte Raja gesagt, beruhe auf ihrer Fähigkeit, sich mit den Mächtigen zu verständigen; Parimals ländliche Mundart sei die Sprache derer, die das Joch tragen, und Nil dürfe sie nie wieder gebrauchen, denn sie würde seine Aussprache verderben, wenn es Zeit wurde, Hindustani und Persisch zu lernen, wie es für den Erben einer Zamindari erforderlich sei.
Nil, stets der gehorsame Sohn, hatte zugelassen, dass die Sprache in seinem Kopf welkte, doch sie war, ohne dass er es merkte, am Leben geblieben, und erst jetzt, als er Ditis Lieder hörte, wurde ihm klar, dass sie sich insgeheim von Musik ernährt hatte. Schon immer hatte er dādrās, chaitīs und bārahmāsās geliebt – Lieder, wie Diti sie sang. Als er ihr jetzt zuhörte, wusste er plötzlich, warum Bhojpuri die Sprache dieser Musik war: Weil von allen zwischen Ganges und Indus gesprochenen Sprachen keine im selben Maß fähig war, Nuancen der Liebe, der Sehnsucht und des Trennungsschmerzes auszudrücken – die Nöte derer, die weggehen, und derer, die in der Heimat zurückbleiben.
Warum hatte sich die Hand des Schicksals bei der Auswahl jener Männer und Frauen, die aus dieser unterworfenen Ebene herausgerissen werden sollten, so weit ins Landesinnere verirrt, weg von den dicht bevölkerten Küstenstreifen, um sich ausgerechnet auf die Menschen zu legen, die von allen am hartnäckigsten im Schlick des Ganges verwurzelt waren, in einem Boden, in den man Leid säen musste, damit er seine Ernte an Geschichten und Liedern hervorbrachte? Es war, als hätte das Schicksal seine Faust durch das lebendige Fleisch des Landes gestoßen, um ein Stück aus seinem gepeinigten Herzen herauszureißen.
In dieser Nacht verspürte Nil einen starken Drang, die erinnerten Worte zu gebrauchen. Er konnte nicht schlafen, und viel später, als die Frauen sich heiser gesungen hatten und eine gespannte Stille sich über das Zwischendeck gesenkt hatte, hörte er, wie einige der Auswanderer versuchten, sich an die Geschichte der Ganga-Sagar-Insel zu erinnern. Er konnte nicht widerstehen, die Geschichte zu erzählen: Durch die Lüftungsöffnung erinnerte er seine Zuhörer, dass, gäbe es diese Insel nicht, weder der Ganges noch das Meer existieren würden. Denn der Sage nach hatte Vishnu hier, in seinem Avatar als der Weise Kapila, in Meditation versunken gesessen, als er von König Sagars sechzigtausend Söhnen gestört wurde, die durch das Land zogen, um es für die Ikshvaku-Dynastie zu unterwerfen. Und hier, genau an der Stelle, wo sie sich jetzt
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