Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
Besitz seiner Belohnung. Nachdem er aber seinen Ochsenkarren gewonnen hatte, zeigte er keinerlei Neigung mehr zu weiteren Kämpfen – was nicht verwunderlich war, denn wie jedermann wusste, war er ein zurückhaltender, schüchterner, friedfertiger Mensch, der nichts anderes erstrebte, als mit der Beförderung von Gütern und Personen sein Brot zu verdienen. Doch sein Ruhm holte ihn ein: Die Kunde von seinen Taten drang an das erhabene Ohr des Maharadschas von Benares, und Seine Hoheit äußerte den Wunsch, den starken Mann von Ghazipur gegen den Champion seines Hofs antreten zu sehen.
    Kalua sträubte sich zunächst, doch die Grundbesitzer redeten ihm gut zu, sie schmeichelten ihm und drohten ihm schließlich, seinen Karren samt Ochsen zu konfiszieren. Man begab sich also nach Benares, und dort, auf dem großen Platz vor dem Ramgarh-Palast, erlitt Kalua seine erste Niederlage: Schon nach wenigen Minuten wurde er bewusstlos geschlagen. Der Maharadscha schaute befriedigt zu und meinte, dieser Ausgang beweise, dass beim Ringen nicht nur die Kraft, sondern auch die Intelligenz auf die Probe gestellt werde, und auf letzterem Gebiet könne es Ghazipur wohl kaum mit Benares aufnehmen. Ganz Ghazipur sah sich gedemütigt, und Kalua kehrte in Schimpf und Schande heim.
    Nicht lange danach aber machten Geschichten die Runde, die Kaluas Niederlage in einem anderen Licht erscheinen ließen. In Benares, so hieß es, hatten die drei jungen Grundbesitzer, von der dortigen Atmosphäre der Zügellosigkeit angesteckt, beschlossen, sich einen Spaß zu machen und Kalua mit einer Frau zusammenzubringen. Sie hatten Freunde eingeladen
und Wetten abgeschlossen: Würde sich eine Frau finden, die bereit war, mit diesem Hünen, diesem zweibeinigen Untier das Bett zu teilen? Eine bekannte bāījī namens Hirabai wurde angeheuert und in den kothā gebracht, in dem die drei wohnten. Mit nichts als einem langot aus weißem Baumwollstoff bekleidet, wurde Kalua, von einem ausgewählten Publikum hinter einem marmorierten Wandschirm beobachtet, zu ihr hingeführt. Was hatte Hirabai erwartet? Niemand wusste es, doch als sie Kalua sah, hatte sie dem Vernehmen nach geschrien: »Dieses Tier muss man mit einem Pferd paaren, nicht mit einer Frau …«
    Diese Demütigung, sagten die Leute, habe Kalua am Ramgarh-Palast den Sieg gekostet. So erzählte man sich die Geschichte in den Gassen und an den Ghats von Ghazipur.
    Wie es sich traf, gehörte auch Diti zu jenen, die sich für die Richtigkeit dieser Version verbürgten. Und das kam so: Eines Abends, nachdem sie ihrem Mann das Essen vorgesetzt hatte, stellte sie fest, dass nicht mehr genug Wasser im Haus war. Das Geschirr über Nacht ungespült stehen zu lassen, hätte eine Invasion von Geistern, Ghulen und hungrigen pishāchas angelockt. Doch es war eine helle Vollmondnacht, und bis ans Ufer des Ganges war es nur ein kurzes Stück zu gehen. Mit einem Krug auf der Hüfte strebte Diti durch den hohen Mohn dem silbern schimmernden Fluss zu. Gerade als sie aus dem Mohnfeld heraus und an das baumlose, sandige Ufer wollte, hörte sie in einiger Entfernung Hufgeklapper. Sie schaute nach links, in die Richtung, in der Ghazipur lag, und sah im Mondlicht vier Reiter herantraben.
    Ein Mann auf einem Pferd bedeutete für eine Frau, die allein unterwegs war, in jedem Fall Verdruss; bei vieren war die Gefahr nur allzu offenkundig. Diti sprang schnell in das Feld zurück und versteckte sich. Als die Reiter näher kamen,
merkte sie, dass sie sich geirrt hatte: Es waren nicht vier, sondern nur drei Männer zu Pferde, der vierte folgte ihnen zu Fuß. Sie glaubte, er sei ein Pferdeknecht, doch als die Männer noch näher gekommen waren, sah sie, dass er ein Halfter um den Hals trug und wie ein Pferd an einem Strick geführt wurde. Seiner Größe wegen hatte sie ihn für einen Reiter gehalten, doch es war niemand anderer als Kalua. Jetzt sah sie auch, wer die Reiter waren, denn ihre Gesichter kannte in Ghazipur jeder: Es waren die sportbegeisterten Grundbesitzer. Einer von ihnen rief den anderen zu: »Hier ist ein guter Platz, hier sind wir unter uns.« Diti merkte an seiner Stimme, dass er betrunken war. Als die Männer fast auf gleicher Höhe mit ihr waren, stiegen sie ab, banden zwei der Pferde aneinander und ließen sie im Mohn grasen. Das dritte, eine große schwarze Stute, führten sie zu Kalua. Jetzt vernahm Diti ein Wimmern und Schluchzen, und plötzlich fiel Kalua auf die Knie und umklammerte die Füße der Thakurs:

Weitere Kostenlose Bücher