Das mohnrote Meer - Roman
Nachmittag, fünfhundert Meilen östlich von Ghazipur, machte sich Azad Naskar – allgemein bekannt unter seinem Spitznamen Jodu – ebenfalls bereit, die Reise anzutreten, die ihn vor den Bug der Ibis und in Ditis Schrein bringen sollte. Zuvor hatte Jodu in dem Dorf Naskarpara seine Mutter beerdigt und von einer seiner letzten Münzen einen Mullah-Sahib dafür bezahlt, dass er an dem frisch ausgehobenen Grab aus dem Koran las. Das Dorf lag etwa fünfzehn Meilen von Kalkutta entfernt in einer gesichtslosen Schlick- und Mangrovenlandschaft am Rande der Sundarbans. Es war eine ungeordnete Ansammlung von Hütten, die sich um das Grabmal des Sufi-Fakirs drängten, der die Bewohner vor einigen Generationen zum Islam bekehrt hatte. Ohne sein Grabmal wäre das Dorf vielleicht längst wieder im Schlick versunken, denn die Bewohner gehörten nicht zu den Menschen, die lange an einem Ort verweilen. Die meisten schweiften auf dem Wasser umher und verdienten ihr Brot als Schiffer, Fährleute und Fischer. Es waren bescheidene Leute; nur wenige von ihnen
besaßen genug Ehrgeiz oder Tatendrang, sich um Arbeit auf Seeschiffen zu bemühen, und von diesen wenigen hatte sich keiner je so sehnlich gewünscht, Laskare zu werden, wie Jodu. Hätte der Gesundheitszustand seiner Mutter es erlaubt, hätte er das Dorf längst verlassen, doch angesichts der Familienverhältnisse musste er damit rechnen, dass sich ohne ihn niemand mehr um sie gekümmert hätte. Während der Dauer ihrer Krankheit hatte er sie ungeduldig und doch liebevoll gepflegt und alles getan, um ihr in ihren letzten Lebenstagen ein wenig Wohlbehagen zu verschaffen. Eines musste er nun noch für sie erledigen, dann war er frei und konnte zu den Ghat-Serangs gehen, den Männern, die Laskaren für Hochseeschiffe anheuerten.
Auch Jodu war der Sohn eines Schiffers, und er war – nach eigener Einschätzung – kein Kind mehr. An seinem Kinn sprossen die Haare plötzlich so üppig, dass sie einen wöchentlichen Gang zum Barbier erforderlich machten. Doch die Veränderungen seiner Körperbeschaffenheit waren so neu und so vulkanisch, dass er sich erst noch an sie gewöhnen musste. Sein Körper glich einem soeben aus dem Meer emporgestiegenen rauchenden Krater, der noch der Erforschung harrt. Über seine linke Augenbraue zog sich eine tiefe Narbe, Zeugnis eines Missgeschicks in Kindertagen; aus der Ferne sah es aus, als hätte er nicht zwei, sondern drei Brauen. Diese Entstellung – sofern man sie so nennen konnte – verlieh seiner Erscheinung etwas Besonderes, und Jahre später, als die Zeit kam, da er in Ditis Schrein einzog, bestimmte sie ihre Skizze von ihm: drei leicht abgewinkelte Striche in einem Oval.
Das Boot, das Jodu vor Jahren von seinem Vater geerbt hatte, war ein schwerfälliges Ding, ein Dingi aus ausgehöhlten, mit Hanfseilen verbundenen Stämmen. Wenige Stunden nach dem Begräbnis seiner Mutter hatte er es mit seinen wenigen
Habseligkeiten beladen und war nach Kalkutta aufgebrochen. Er fuhr mit der Strömung und brauchte deshalb nicht lange für die Strecke bis zur Mündung des Kanals, der zu den Docks der Stadt führte. Die schmale Wasserstraße – sie nannte sich »Tolly’s Nala« – war vor Kurzem von einem englischen Ingenieur gebaut worden, und für das Privileg, sie befahren zu dürfen, musste Jodu dem Zollwärter seine letzten Münzen aushändigen. Es herrschte wie immer reger Betrieb auf dem Kanal, und Jodu brauchte mehrere Stunden für die Fahrt durch die Stadt, vorbei am Kalighat-Tempel und den düsteren Mauern des Gefängnisses von Alipur. Als er in die Fahrrinne des Hooghly gelangte, fand er sich plötzlich inmitten einer Vielzahl von Schiffen wieder, voll besetzten Sampans und wendigen Almadiyas, turmhohen Brigantinen und winzigen Baulias, schnellen Karacken und schwankenden Wulocks, Baggalas aus Aden mit schnittigen Lateinersegeln und Balkats mit vielen Decks. Beim Steuern durch den dichten Verkehr ließ sich die eine oder andere kleine Kollision nicht vermeiden, und jedes Mal wurde Jodu von Serangs und Tindals, Bootsmännern und ihren Stellvertretern, angeschrien. Ein reizbarer Bhandari leerte einen Eimer Schmutzwasser über ihm aus, und ein unflätiger Steuermann schmähte ihn mit anzüglichen Gesten. Als Antwort ahmte Jodu die bekannten Rufe der Seeoffiziere nach, so gekonnt, dass ihn die Laskaren offenen Mundes anstarrten.
Nach einem Jahr in ländlicher Abgeschiedenheit hoben sich seine Lebensgeister, als er diese Flut von
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