Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
sich. Er war in höchster Sorge, so viel war deutlich, und so überraschte es sie nicht, als sich einer seiner Diener einschaltete und etwas von einem akuten Notfall sagte. Die schwangere Frau des Sahibs habe große Schmerzen, sie brauche dringend einen weißen Arzt, und da es auf dieser Seite des Flusses keinen gebe, müsse sie nach Kalkutta hinüber.
    Jodus Vater protestierte: Sein Boot sei zu klein, man könne die Überfahrt in der mondlosen Nacht nicht wagen, das Wasser sei von wechselnden Winden aufgewühlt. Der Sahib solle besser einen großen Bora oder ein Badgero nehmen, irgendein Boot mit großer Besatzung und vielen Riemen; am Botanischen Garten müsse es so etwas doch geben.
    Schon, lautete die Antwort, man habe dort tatsächlich eine eigene kleine Flotte, aber wie der Zufall es wolle, sei im Moment keins der Boote verfügbar, denn der Direktor habe alle mit Beschlag belegt, um seine Freunde zum alljährlichen Börsenball zu bringen. Das Dingi sei im Moment das einzige Boot am Ghat; wenn Jodus Vater nicht fahre, würden zwei Menschen sterben: Mutter und Kind.
    Jodus Mutter, der die Not des Sahibs und seiner Mem zu Herzen ging – sie hatte ja vor Kurzem selbst die Pein einer Geburt durchlitten –, stimmte in ihre Bitten mit ein und flehte
ihren Mann an, den Auftrag anzunehmen. Doch er schüttelte nur weiter den Kopf, und erst ein Silbertical, der mehr wert war als sein ganzes Boot, konnte ihn umstimmen. Auf diesen unwiderstehlichen Anreiz hin wurde das Geschäft besiegelt und die Französin in ihrer Sänfte an Bord gebracht.
    Ein Blick in das Gesicht der Schwangeren genügte, um zu sehen, dass sie große Schmerzen litt. Sie legten unverzüglich ab und steuerten auf Kalkuttas Babughat zu. Es war windig und dunkel, aber die Sicht reichte aus, denn das Börsengebäude am anderen Ufer war für den Ball hell erleuchtet. Als sie aber ablegten, nahm der Wind zu, die Wellen schlugen höher, und bald wurde das Boot mit solcher Wucht hin- und hergeworfen, dass die Sänfte kaum noch ruhig zu halten war. Sie schlingerte und schwankte immer heftiger, der Memsahib ging es immer schlechter, und plötzlich, genau in der Flussmitte, verlor sie das Fruchtwasser und es setzten vorzeitige Wehen ein.
    Sie kehrten augenblicklich um, aber das Ufer war schon weit entfernt. Der Sahib, vollauf damit beschäftigt, seine Frau zu beruhigen, konnte bei der Entbindung keine Hilfe sein, und so biss Jodus Mutter die Nabelschnur durch und wischte dem neugeborenen Mädchen das Blut ab. Sie ließ ihr eigenes Kind, Jodu, nackt in der Bilge liegen, hüllte das Neugeborene in seine Decke und legte es der sterbenden Mutter in den Arm. Das Gesicht des Kindes war das Letzte, was die Augen der Memsahib erblickten; noch ehe sie den Botanischen Garten erreicht hatten, war sie verblutet.
    Der Sahib, in seiner Verzweiflung außerstande, sich um den schreienden Säugling zu kümmern, war heilfroh, als Jodus Mutter dem Baby die Brust gab, sodass es sich beruhigte. Wieder an Land, brachte er eine weitere Bitte vor: Ob Jodus Vater mit seiner Familie nicht bleiben könne, bis eine Amme gefunden sei?

    Wie hätten sie da Nein sagen können? Jodus Mutter wäre es zudem schwergefallen, sich nach jener ersten Nacht wieder von dem Kind zu trennen. In dem Moment, als sie es an sich drückte, hatte sie es ins Herz geschlossen, und von da an war es, als hätte sie nicht nur eins, sondern zwei Kinder: ihren Sohn Jodu und ihre Tochter Putli – »Puppe« –, wie sie den Namen des Mädchens abwandelte. Und für Paulette wurde sie in dem Sprachengewirr, in dem sie aufwuchs, zu »Tantima« – »Tante-Mutter«.
    So kam es, dass Jodus Mutter in die Dienste Pierre Lamberts trat, der erst vor Kurzem als Kurator des Botanischen Gartens nach Kalkutta gekommen war. Man hatte vereinbart, dass sie nur so lange bleiben sollte, bis Ersatz gefunden war, aber irgendwie kam es nie dazu. Ohne dass je irgendetwas formell geregelt worden wäre, wurde Jodus Mutter Paulettes Amme, und die beiden Kinder verbrachten ihre Säuglingszeit zusammen in ihren Armen. Jodus Vater hatte anfangs noch Bedenken, die sich jedoch verflüchtigten, als der Kurator ihm ein neues, weit besseres Boot kaufte, eine Baulia. Bald zog es ihn wieder nach Naskarpara; er ließ Frau und Kind zurück und nahm nur das Boot mit. Jodu und seine Mutter sahen ihn selten, meist nur zu Beginn des Monats, wenn sie ihren Lohn bekam. Mit dem Geld, das er ihr abnahm, heiratete er wieder und zeugte zahlreiche Kinder. Jodu sah

Weitere Kostenlose Bücher