Das mohnrote Meer - Roman
diese Halbgeschwister zweimal im Jahr, während des Id-Fests, wenn er mit nach Naskarpara musste, ob er wollte oder nicht. Doch das Dorf war ihm nie in gleicher Weise ein Zuhause wie der Lambert-Bungalow, in dem er als Paulettes Lieblingsspielgefährte ein kleiner Prinz gewesen war.
Paulette ihrerseits lernte als erste Sprache Bengali und nahm als erste feste Nahrung eine von Jodus Mutter bereitete khichrī zu sich. Was ihre Kleidung anbelangte, so trug sie weitaus lieber
Saris als Schürzen, und für Schuhe brachte sie nicht die Geduld auf; sie zog es vor, wie Jodu barfuß durch den Garten zu laufen. In ihren ersten Jahren waren die beiden Kinder praktisch unzertrennlich: War Jodu nicht bei ihr, wollte Paulette weder schlafen noch essen. Es gab noch andere Kinder in den Bungalows ringsum, aber nur Jodu hatte freien Zugang zum Haupthaus und seinen Schlafzimmern. Er verdankte das, wie er schon früh begriff, der besonderen Beziehung seiner Mutter zu ihrem Dienstherrn, die es erforderte, dass sie bis spät in die Nacht bei ihm blieb. Doch weder Jodu noch Putli verloren je ein Wort darüber; für sie war es eine der vielen Besonderheiten ihres seltsamen Haushalts. Denn Jodu und seine Mutter waren nicht die Einzigen, die abseits von ihresgleichen lebten; auf Paulette und ihren Vater traf das vielleicht noch mehr zu. Selten, wenn überhaupt jemals, kamen Weiße zu ihnen zu Besuch, und am turbulenten gesellschaftlichen Leben der Engländer in Kalkutta nahmen sie nicht teil. Wagte sich der Franzose einmal über den Fluss, so nur aus Gründen des »busy-ness«, ansonsten war er mit seinen Pflanzen und Büchern vollauf beschäftigt.
Jodu war ein besserer Beobachter als seine Spielgefährtin, und es entging ihm nicht, dass Paulette und ihr Vater mit den anderen weißen Sahibs auf keinem guten Fuß standen. Die Lamberts, so hatte er gehört, stammten aus einem Land, das häufig mit England im Krieg lag, und anfangs schrieb er ihre Zurückgezogenheit diesem Umstand zu. Später aber, als die Geheimnisse, die er mit Paulette teilte, gewichtiger wurden, begriff er, dass es noch mehr gab, was die Lamberts von den Engländern trennte. Er erfuhr, dass Pierre Lambert sein Land deshalb verlassen hatte, weil er sich in seiner Jugend an einem Aufstand gegen den König beteiligt hatte, und dass er von der englischen Gesellschaft deshalb gemieden wurde, weil er öffentlich
die Existenz Gottes und die Unantastbarkeit der Ehe bestritten hatte. Aber das alles störte den Jungen nicht im Geringsten.
Doch weder Stand noch Alter lockerten schließlich die Bande zwischen den beiden Kindern; etwas Subtileres trat zwischen sie: Paulette begann zu lesen, und von da an hatte sie für nichts anderes mehr Zeit. Jodu dagegen hatte die Buchstaben kaum entziffern gelernt, da verlor er das Interesse an ihnen; seine Neigungen hatten ihn stets zum Wasser hingezogen. Er erhob Anspruch auf das alte Boot seines Vaters – in dem Putli zur Welt gekommen war –, und mit zehn war er in dessen Handhabung bereits so geschickt, dass er den Lamberts nicht nur als Bootsführer dienen, sondern sie auch auf ihren botanischen Exkursionen begleiten konnte.
So seltsam der Haushalt auch war, schien er doch so sicher, dauerhaft und wohlgeordnet, dass niemand auf die Katastrophen vorbereitet war, die Pierre Lamberts überraschender Tod nach sich zog. Ein Fieber raffte Paulettes Vater dahin, bevor er seine Angelegenheiten regeln konnte, und kurz nach seinem Ableben stellte sich heraus, dass er, um seine Forschungen vorantreiben zu können, beträchtliche Schulden aufgehäuft hatte. Seine mysteriösen »busy-ness«-Fahrten nach Kalkutta entpuppten sich als heimliche Besuche bei den Geldverleihern in Kidderpur. Jodu und seine Mutter mussten nun den Preis für ihre bevorzugte Stellung im Haus des Kurators zahlen. Die Missgunst und der Neid der anderen Bediensteten entluden sich sehr bald in wütenden Vorwürfen der Leichenfledderei. Die Anfeindungen nahmen solche Ausmaße an, dass Jodu und seine Mutter sich in ihrem Boot heimlich davonmachen mussten. Sie hatten keine andere Wahl, als nach Naskarpara zurückzukehren, wo ihnen die neue Familie von Jodus Vater widerwillig Obdach gewährte. Aber nach all den Jahren bequemen
Bungalowlebens war seine Mutter den Entbehrungen des Dorflebens nicht mehr gewachsen, und wenige Wochen nach ihrer Ankunft setzte der unaufhaltsame Verfall ihrer Gesundheit ein, der erst mit ihrem Tod endete.
Jodu hatte insgesamt vierzehn Monate in Naskarpara
Weitere Kostenlose Bücher