Das mohnrote Meer - Roman
Matrosenflüchen, Obszönitäten, höhnischen Bemerkungen und zweideutigen Aufforderungen wieder hörte. Beim Anblick der Laskaren, die sich durch die Takelage ihrer Schiffe schwangen, juckte es ihn in den Fingern, und er konnte es kaum erwarten, selbst Taue in den Händen zu spüren. Am nahen Ufer schweifte sein
Blick von den Lagerhäusern in Kidderpur zu den gewundenen Gassen von Watgunge, wo sich die Frauen auf den Stufen ihrer Häuser für die Nacht schminkten. Was würden sie jetzt zu ihm sagen, diese Frauen, die ihn seiner Jugend wegen ausgelacht und wieder weggeschickt hatten?
Nachdem er Mr. Kyds Werft passiert hatte, ließ der Betrieb auf dem Wasser ein wenig nach, und er konnte ohne Probleme am Bhutghat anlegen. Dieser Teil der Stadt lag den Royal Botanical Gardens am anderen Ufer des Hooghly direkt gegenüber, und das Ghat wurde vom Personal des Botanischen Gartens häufig benutzt. Eins seiner Boote würde früher oder später dort festmachen, das wusste Jodu, und wirklich erschien nach einer Stunde ein Boot mit einem jungen englischen Kurator darin. Den nur mit einer lungi bekleideten Bootsführer am Ruder kannte Jodu gut, und als der Sahib ausgestiegen war, schob er sein Boot näher heran.
»Are , bist du das, Jodu Naskar?«, fragte der Bootsführer.
»Salam, Khalaji«, begrüßte ihn Jodu, »ja, ich bin’s.«
»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Wo ist deine Mutter? Es ist über ein Jahr her, dass du aus dem Botanischen Garten weg bist. Alle wundern sich …«
»Wir sind ins Dorf zurück, Khalaji. Meine Mutter wollte nicht mehr bleiben, nachdem unser Sahib gestorben war.«
»Ja, das hab ich gehört. Stimmt es, dass sie krank war?«
Jodu nickte und senkte den Kopf. »Sie ist letzte Nacht gestorben, Khalaji.«
»Allāh ’r rahīm! « Der Bootsführer schloss die Augen und murmelte: »Gott sei ihr gnädig!«
»Bismillāh …« Jodu sprach das Gebet leise nach und sagte dann: »Hör zu, Khalaji, wegen meiner Mutter bin ich auch hier. Bevor sie gestorben ist, hat sie mir aufgetragen, Miss Paulette zu suchen, Lambert-Sahibs Tochter.«
»Verstehe«, sagte der Bootsführer, »das Mädchen war wie eine Tochter für deine Mutter. Keine āyā hat einem Kind je so viel Liebe geschenkt wie sie.«
»Weißt du denn, wo Paulette-Missy ist? Ich hab sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.«
Der Bootsführer nickte und zeigte flussabwärts. »Sie wohnt nicht weit von hier. Nach dem Tod ihres Vaters hat eine reiche englische Familie sie bei sich aufgenommen. Du musst nach Garden Reach, wenn du sie finden willst. Frag nach der Villa von Burnham-Sahib. Im Garten ist ein Pavillon mit einem grünen Dach, du erkennst ihn sofort, wenn du ihn siehst.«
Jodu war hocherfreut, sein Ziel so mühelos erreicht zu haben. »Khudā-hāfiz , Khalaji!« Er winkte dem Bootsführer dankend zu, zog sein Ruder aus dem Schlick und stieß sich kraftvoll ab. Im Wegfahren hörte er, wie der Bootsführer zu den Männern ringsum aufgeregt sagte: »Habt ihr das Dingi von dem Jungen gesehen? In dem Boot ist Miss Paulette zur Welt gekommen, die Tochter von Lambert-Sahib, dem Franzosen …«
Jodu hatte die Geschichte schon so viele Male und von so vielen Leuten gehört, dass es ihm fast vorkam, als wäre er selbst dabei gewesen. Sein Kismet, so hatte seine Mutter immer gesagt, habe die seltsame Wendung bewirkt, die das Schicksal der Familie genommen hatte – wäre sie nicht in ihr Dorf zurückgekehrt, um Jodu dort zur Welt zu bringen, wäre Paulette nie in ihr Leben getreten.
Es war nicht lange nach Jodus Geburt gewesen. Sein Vater war mit seinem Dingi gekommen, um seine Frau mit dem Neugeborenen bei den Verwandten abzuholen, bei denen sie entbunden hatte. Als sie auf dem Hooghly waren, kam ein kräftiger, böiger Wind auf. Es ging bereits auf den Abend zu, und Jodus Vater beschloss, kein Risiko einzugehen und den Fluss um diese Zeit nicht mehr zu überqueren. Sicherer war
es, am Ufer zu übernachten und die Überfahrt am nächsten Morgen zu versuchen. Er hielt sich dicht am Ufer und kam schließlich an die Mauer des Botanischen Gartens. Konnte es einen besseren Rastplatz geben als dieses schöne Ghat? Sie vertäuten das Boot, aßen zu Abend und richteten sich für die Nacht ein.
Sie schliefen noch nicht lange, da wurden sie von lauten Stimmen geweckt. Eine Laterne tauchte auf und mit ihr das Gesicht eines Weißen. Der Sahib hatte seinen Kopf unter das Strohdach des Boots gesteckt und gab ein aufgeregtes Kauderwelsch von
Weitere Kostenlose Bücher