Das mohnrote Meer - Roman
verbracht und in dieser Zeit Paulette weder gesehen noch irgendetwas von ihr gehört. Seine Mutter hatte auf dem Sterbebett oft an ihren einstigen Schützling gedacht und Jodu inständig gebeten, sich noch ein letztes Mal mit Putli zu treffen und ihr zu sagen, wie sehr ihre alte āyā sie in ihren letzten Lebenstagen vermisst habe. Jodu war sich längst bewusst, dass er und seine frühere Spielgefährtin eines Tages in ihre jeweils eigene Welt hatten zurückkehren müssen, und er wäre bereit gewesen, es dabei zu belassen. Ohne den Wunsch seiner Mutter hätte er sich nicht aufgemacht, Paulette zu suchen. Jetzt aber, da er sich dem Ort näherte, an dem sie lebte, regten sich Ungeduld und auch Bangigkeit in ihm. Würde Paulette bereit sein, sich mit ihm zu treffen, oder würde sie ihn von den Dienern hinauswerfen lassen? Wenn er sie nur von Angesicht zu Angesicht sehen konnte – es gab so vieles zu bereden, so vieles zu erzählen. Ein Stück flussabwärts erblickte er einen kleinen Pavillon mit einem grünen Dach, und er beschleunigte die Fahrt.
VIERTES KAPITEL
A ls Diti auf Kaluas Ochsenkarren nach Ghazipur hineinfuhr, war ihr trotz des traurigen Anlasses der Fahrt seltsam leicht zumute. Es war, als wüsste sie im Innersten, dass sie zum letzten Mal mit ihrer Tochter diese Straße entlangfuhr, und als sei sie entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Sie schoben sich langsam durch das Gewirr der Gassen und Basare im Zentrum der Stadt, doch als die Straße zum Fluss abbog, lichtete sich der Verkehr ein wenig, und die Umgebung wurde reizvoller. Diti und Kabutri kamen nur selten in die Stadt, und sie bestaunten die Mauern des Chehel Satun, eines Palasts mit vierzig Säulen, den ein Edelmann persischer Abstammung in Nachahmung eines Bauwerks in Isfahan erbaut hatte. Kurz darauf passierten sie ein noch größeres Wunder, einen griechisch anmutenden Bau mit kannelierten Säulen und einer hoch aufstrebenden Kuppel. Es war das Mausoleum des berühmten Lord Cornwallis aus Yorktown, der vor dreiunddreißig Jahren in Ghazipur gestorben war.
Als sie daran vorbeirumpelten, zeigte Diti ihrer Tochter die Statue des englischen Lat Sahib.
In einer Kurve schnalzte Kalua plötzlich mit der Zunge und zügelte die Ochsen. Erschrocken fuhren Diti und Kabutri herum und schauten nach vorn – und das Lächeln erstarb auf ihren Lippen.
Die Straße war voller Menschen, es mochten hundert oder mehr sein. Von einem Ring mit Stöcken bewaffneter Bewacher
umgeben, schleppten sie sich müde dem Fluss zu. Auf Kopf und Schultern trugen sie Bündel mit ihren Habseligkeiten, und an ihren Armen hingen Messingtöpfe. Sie mussten schon lange unterwegs sein, denn ihre Dhotis, langot s und Westen waren voller Staub. Ihr Anblick flößte den Einheimischen Mitgefühl und auch Furcht ein. Einige schnalzten mitleidig mit der Zunge, andere aber, ein paar Gassenjungen und alte Frauen, warfen Steine in die Menge, als wollten sie einen unheilvollen Einfluss abwehren. Doch trotz allem und ungeachtet ihrer Erschöpfung wirkten die Fremden seltsam ungebeugt, ja geradezu streitbar; einige warfen die Steine postwendend zurück. Diese Beherztheit verstörte die Zuschauer nicht weniger als ihr offenkundiges Elend.
»Was sind das für Leute, Ma?«, fragte Kabutri flüsternd.
»Ich weiß es nicht – Gefangene vielleicht?«
»Nein«, schaltete sich Kalua ein und zeigte auf einige Frauen und Kinder in der Menge. Während sie weitere Vermutungen anstellten, hielt einer der Bewacher den Karren an und sagte zu Kalua, ihr Anführer, Dafadar Ramsaranji, habe sich den Fuß verletzt und müsse zum nahe gelegenen Ghat gefahren werden. Diti und Kabutri beeilten sich, ihm Platz zu machen. Er war eine imposante Erscheinung, groß, dickbäuchig, makellos weiß gekleidet, an den Füßen Schuhe aus Leder. In der Hand hielt er einen schweren Stock, und seinen Kopf krönte ein riesiger Turban.
Sie wagten vor Angst nicht zu sprechen, doch schließlich brach er selbst das Schweigen. »Woher kommt ihr?«, fragte er Kalua.
»Aus einem Dorf in der Nähe, Malik.«
Diti und Kabutri hatten die Ohren gespitzt, und als sie hörten, dass der Dafadar Bhojpuri sprach, ihre eigene Sprache, rückten sie näher heran, damit ihnen keins seiner Worte entging.
Schließlich fasste sich Kalua ein Herz und fragte: »Wer sind diese Leute, Malik?«
»Das sind Girmitiyas«, antwortete Ramsaranji. Bei diesem Wort zog Diti hörbar die Luft ein, denn plötzlich begriff sie. Sie selbst hatte bis dahin
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