Das mohnrote Meer - Roman
hochgearbeitet zu haben. Im Lauf der letzten beiden Tage hatte Zachary dank Mr. Doughty sehr viel über den »Bara Sahib« erfahren. So wusste er beispielsweise, dass Benjamin Burnham bei all seiner Vertrautheit mit Asien nicht »von hier« war – »will sagen, er ist nicht wie diejenigen von uns Sahibs, die ihren ersten Schnaufer im Orient getan haben«. Er war der Sohn eines Holzhändlers aus Liverpool, hatte aber nicht mehr als zehn Jahre »zu Hause« verbracht – »und damit meine ich nicht irgendwo, mein Junge, sondern in England!«
Als Kind, sagte der Lotse, sei Ben »ein rechter Shaitan« gewesen, ein Streithammel, Störenfried und Stänkerer, dem ein lebenslanger Weg durch Besserungsanstalten und Zuchthäuser vorherbestimmt schien. Um ihm dieses Schicksal zu ersparen, hatte seine Familie ihn auf ein Schiff verfrachtet, als ›Meerschweinchen‹ – »so nannte man damals die Schiffsjungen auf den Ostindienfahrern, weil jeder auf ihnen herumtrampeln und mit ihnen machen konnte, was er wollte«.
Doch selbst die Disziplin auf einem Teeschiff der Ostindien-Kompanie hatte den jungen Burschen nicht zähmen können: »Ein Quartermeister hatte den Jungen in die Last gelockt in der Absicht, sich mit ihm zu verlustieren. Aber obwohl er noch so klein war, setzte sich der junge Benjamin tapfer zur Wehr und richtete den alten Bock mit einem Belegnagel derart zu, dass um ein Haar sein Lebenslicht erloschen wäre.«
Zu seiner eigenen Sicherheit wurde Benjamin Burnham im nächsten Hafen von Bord geschickt, und das war zufällig die britische Strafkolonie Port Blair auf den Andamanen. »Das Beste, was einem ungebärdigen jungen Chakara passieren kann: Es geht doch nichts über eine Gefängniszelle, um einen Teufelsbraten zur Raison zu bringen.« In Port Blair bekam Ben Burnham eine Anstellung beim Gefängniskaplan. Und unter dessen strengem, aber auch gütigem Regiment erwarb er sowohl Glauben als auch Bildung. »Ach, diese Prediger haben eine harte Hand, mein Junge; sie legen dir das Wort Gottes in den Mund, auch wenn sie dir dazu die Zähne einschlagen müssen.« Nach hinreichender Besserung ließ sich der Junge Richtung Atlantik treiben und fuhr eine Zeit lang auf einem Sklavenschiff zwischen Amerika, Afrika und England. So kam es, dass er sich mit neunzehn Jahren auf einem Schiff wiederfand, das auch einen bekannten protestantischen Missionar
an Bord hatte. Die zufällige Bekanntschaft zwischen Ben Burnham und Reverend Morrison sollte sich zu einer dauerhaften Freundschaft vertiefen. »So läuft das in diesen Gegenden«, sagte der Lotse. »Kanton ist ein Ort, wo man schnell lernt, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Die Chinesen verbannen die Fankuai, die fremden Teufel, in die ausländischen Fabriken außerhalb der Stadtmauern. Kein Fankuai kann den ihnen zugeteilten schmalen Küstenstreifen verlassen oder ein Stadttor passieren. Sie können nirgendwohin, nirgendwo spazierengehen, vom Ausreiten ganz zu schweigen. Sogar für eine Fahrt mit einem kleinen Sampan auf dem Fluss braucht man eine amtliche Genehmigung. Mems haben keinen Zutritt; man hat nichts zu tun, als den Geldwechslern beim Zählen ihrer Taels zuzuhören. Manchmal ist man einsam wie ein Metzger an einem Fastentag. Manche halten das schlicht nicht aus und müssen wieder nach Hause geschickt werden. Manche trösten sich damit, dass sie sich ab und zu ein Tanzmädchen leisten oder sich einen ansaufen. Für Ben Burnham kam das nicht infrage: Wenn er nicht Opium verkaufte, war er bei den Missionaren. Meistens fand man ihn in der amerikanischen Fabrik – die Yankees waren, weil frommer, mehr nach seinem Geschmack als seine Kollegen aus der Kompanie.«
Über die guten Beziehungen des Reverend fand Benjamin Burnham eine Anstellung als Kontorist bei dem Handelshaus Magniac & Co., dem Vorgänger von Jardine & Matheson, und von da an pendelte er wie jeder im Chinahandel tätige Ausländer regelmäßig zwischen den achtzig Meilen voneinander entfernten Scheitelpunkten des Mündungsdeltas des Perlflusses, Kanton und Macao, hin und her. Nur die Wintersaison verbrachte man in Kanton, den Rest des Jahres lebten die Händler in Macao, wo die Kompanie ein weitverzweigtes
Netz von Lagerhäusern und Fabriken unterhielt.
»Eine Zeit lang schuftete Ben Burnham als Hafenarbeiter und half beim Löschen der Opiumladungen, aber er war keiner, der sich damit zufrieden gibt, für andere Leute zu arbeiten und sich monatlich seine Lohntüte abzuholen: Er wollte selbst ein
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