Das mohnrote Meer - Roman
noch nie Girmitiyas gesehen, doch seit einigen Jahren waren in den Dörfern um Ghazipur Gerüchte über sie im Umlauf. Sie wurden so genannt, weil ihre Namen gegen Bezahlung in girmits festgehalten wurden, schriftlichen Vereinbarungen auf einem Stück Papier. Das Geld bekamen ihre Familien, sie selbst wurden weggebracht, und man sah sie nie wieder. Es war, als verschwänden sie in der Unterwelt.
»Wo werden sie hingebracht, Malik?«, fragte Kalua mit gedämpfter Stimme, als spräche er von lebenden Toten.
»Sie fahren mit dem Schiff nach Patna und dann nach Kalkutta. Von da geht es weiter an einen Ort namens Marich.«
Diti konnte nicht länger an sich halten und schaltete sich in das Gespräch ein. »Wo ist Marich?«, fragte sie hinter dem ghūnghat ihres Saris hervor. »Bei Dilli?«
Ramsaranji lachte spöttisch. »Nein, das ist eine Insel im Meer, wie Lanka, aber weiter weg.«
Bei dem Namen Lanka musste Diti an Ravana und seine Dämonenhorden denken, und sie zuckte zusammen. Wie konnten sich diese Leute überhaupt noch auf den Beinen halten, da sie doch wussten, was vor ihnen lag? Sie versuchte, sich in sie hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie es sein mochte, zu wissen, dass man für immer ausgestoßen war, dass man nie wieder sein Vaterhaus betreten würde, dass man nie wieder seine Mutter in die Arme schließen, nie wieder mit den Geschwistern eine Mahlzeit teilen, nie wieder die reinigende Berührung des Ganges spüren würde. Und zu wissen, dass man für den Rest seines Lebens auf einer wilden, von Dämonen heimgesuchten Insel ein karges Dasein fristen würde.
Diti schauderte. »Und wie kommen sie dorthin?«, fragte sie Ramsaranji.
»In Kalkutta wartet ein Schiff auf sie, so groß, wie ihr noch nie eins gesehen habt, mit vielen Masten und Segeln, ein Schiff, das Hunderte von Menschen aufnehmen kann …«
Hāy rām! Das war es also! Diti schlug die Hand vor den Mund. Sie dachte an das Schiff, das sie gesehen hatte, als sie am Ufer des Ganges stand. Aber warum hatte ausgerechnet sie diese Vision gehabt, sie, die doch nichts mit diesen Menschen zu tun hatte? Was konnte das nur bedeuten?
Kabutri erriet, was ihre Mutter beschäftigte. »Das Schiff, das du gesehen hast, war das nicht so eins?«, fragte sie. »Das Schiff, das wie ein Vogel aussah? Komisch, dass es sich dir gezeigt hat.«
»Sprich es nicht aus!«, rief Diti und schlang die Arme um das Kind. Ein Zittern der Furcht durchlief sie, und sie drückte ihre Tochter fest an sich.
Wenige Augenblicke nachdem Mr. Doughty seine Ankunft gemeldet hatte, landeten Benjamin Burnhams Stiefel schwer auf den Decksplanken der Ibis . Die beigen Hosen und die dunkle Jacke des Schiffseigners waren nach dem langen Ritt staubbedeckt, und seine kniehohen Reitstiefel waren mit Schlamm bespritzt, doch der Ritt hatte ihn offenkundig belebt, denn sein gerötetes Gesicht verriet keine Spur von Müdigkeit.
Benjamin Burnham war ein Mann von imposanter Größe und stattlichem Leibesumfang, mit einem lockigen Vollbart, der die obere Hälfte seiner Brust wie ein schimmerndes Kettenhemd bedeckte. Obwohl er schon auf die fünfzig zuging, hatte sein Schritt noch die federnde Elastizität der Jugend, und seine Augen zeigten das strahlende, zielbewusste Funkeln, das
daher kommt, dass man immer nur nach vorn blickt. Seine Gesichtshaut war ledrig und tief gebräunt, Ergebnis vieler Jahre kraftvoller Betätigung in der Sonne. Jetzt stand er erhobenen Hauptes auf Deck, hakte die Daumen in die Revers seiner Jacke und musterte mit prüfendem Blick die Mannschaft des Schoners, um dann Mr. Doughty beiseitezunehmen. Die beiden Männer tauschten ein paar Sätze aus, dann ging Mr. Burnham mit ausgestreckter Hand auf Zachary zu. »Mr. Reid?«
»Ja, Sir.« Zachary trat vor und schüttelte ihm die Hand.
Der Schiffseigner musterte ihn wohlgefällig von Kopf bis Fuß. »Doughty sagt, für einen blutigen Anfänger seien Sie ein pakka junger Mann.«
»Tja, ich weiß nicht, Sir«, erwiderte Zachary unsicher.
Der Schiffseigner lächelte und zeigte seine großen, blitzend weißen Zähne. »Aber sicher trauen Sie sich zu, mich durch mein neues Schiff zu führen?«
Benjamin Burnham strahlte in seinem ganzen Gebaren jene besondere Art von Autorität aus, wie man sie gemeinhin an Menschen wahrnimmt, die in Wohlstand und privilegiert aufgewachsen sind. Das täuschte jedoch, wie Zachary wusste, denn der Schiffseigner war der Sohn eines einfachen Kaufmanns und stolz darauf, sich aus eigener Kraft
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