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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Füßen und machte sich hungrig über einen Topf alten Reis her.
    Am Heck hatte das Dingi einen kleinen überdachten Aufbau, und nachdem er sein kärgliches Mahl beendet hatte, breitete er dort seine Matte aus. Die Dämmerung war hereingebrochen, die Sonne sank hinter dem fernen Ufer des Hooghly, und die Bäume im Botanischen Garten waren nur noch als Silhouetten sichtbar. Obwohl er müde war, brachte Jodu es nicht über sich, die Augen zu schließen, solange das Himmelslicht noch das rege Treiben auf dem Fluss erhellte.
    Die Flut hatte eingesetzt, und der Hooghly füllte sich mit den Segeln von Booten und Schiffen, die noch vor dem Dunkelwerden ihren Liegeplatz erreichen oder in der Flussmitte ankern wollten. Wie er so auf den Planken des sacht schaukelnden Dingis lag, konnte sich Jodu vorstellen, die Welt hätte sich auf den Kopf gestellt und der Fluss wäre zum wolkenreichen Himmel geworden. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man fast denken, die Masten und Spieren der Schiffe seien Blitze, die durch die sich bauschenden Segel fuhren. Und auch Donner gab es – das Knattern der flatternden, schlaff herabhängenden, sich jäh wieder mit Wind füllenden Segel. Diese Geräusche erstaunten ihn immer wieder: das peitschenartige Knallen der Segel, das Pfeifen des Windes in der Takelage, das Ächzen der Spanten und das brandungsähnliche Donnern der Bugwellen. Es war, als sei jedes Schiff
ein vorüberziehendes Gewitter und er ein Adler, der dicht dahinter kreiste, um in den Überresten der Kielwelle nach Beute zu suchen.
    Wenn er über den Fluss schaute, konnte er die Flaggen von einem Dutzend verschiedener Königreiche und anderer Länder zählen: Genua, das Königreich beider Sizilien, Frankreich, Preußen, die Niederlande, Amerika, Venedig. Sie auseinanderzuhalten, hatte er von Putli gelernt, die sie ihm gezeigt hatte, als sie am Botanischen Garten vorbeifuhren. Sie selbst war nie aus Bengalen hinausgekommen, aber sie konnte Geschichten von den Ländern erzählen, zu denen sie gehörten. Diese Geschichten hatten in ihm die Sehnsucht geweckt, einmal die Rosen von Basra oder den Hafen von Kanton zu sehen, wo der Faghfur von Maha-Chin herrschte.
    Auf dem Deck eines Dreimasters ganz in der Nähe ließ sich die Stimme eines Steuermanns vernehmen, die auf Englisch rief: »Alle Mann auf Station!« Im nächsten Moment wiederholte ein Serang das Lotsenkommando in seiner Sprache: »Sab ādmī apnī jagah! «
    »Großmarssegel dichtholen!« Mit einem lauten Knall fuhr der Wind in das Segel, und der Steuermann rief: »Komm auf!«
    »Gos daman ja! «, kam das Echo des Serangs, und langsam begann sich der Bug des Schiffes zu drehen. »Vormarssegel anbrassen.« Und kaum hatte der Serang sein Kommando – »Bajao tirkat gavi! « – gerufen, hatte das hoch angebrachte Segel seinen Peitschenknall in den Wind geschossen.
    Von den Silmagurs, den Segelmachern, die auf den Ghats bei der Arbeit waren, hatte Jodu die Namen jedes einzelnen Segels gelernt, in Englisch und in Laskari – jener kunterbunten Sprache, die nur auf dem Wasser gesprochen wurde und deren Wörter so mannigfaltig waren wie die Schiffe im Hafen, ein anarchisches Gemisch aus portugiesischen Calaluzes und
Pattimars aus Kerala, arabischen Booms und bengalischen Panshois, malaiischen Proas und tamilischen Katamaranen, hindustanischen Palvars und englischen Schnaus –, doch unter der Oberfläche dieses Stimmen- und Sprachengewirrs floss der Sinn der Worte so ungehindert wie die Strömungen unter dem dichten Gewirr der Boote und Schiffe.
    Indem er den Stimmen lauschte, die von den Decks seetüchtiger Schiffe herüberklangen, hatte Jodu sich selbst beigebracht, die Kommandos der Offiziere soweit zu erkennen, dass er sie nachsprechen konnte, wenn auch nur dem Klang nach, wobei er zwar den Sinn als Ganzes verstand, nicht aber die Bedeutung der einzelnen Teile. Solche Kommandos einmal selbst im Ernst rufen zu können, auf einem Schiff, das in einem Orkan Schlagseite bekommen hat … irgendwann, dessen war er sich sicher, würde ihm auch das beschieden sein.
    Plötzlich erscholl ein anderer Ruf – Hayya ’alas-salāt … – und pflanzte sich von Schiff zu Schiff fort: Die Muslime unter den Seeleuten stimmten in den abendlichen Gebetsruf ein. Jodu war nach dem Essen müde, raffte sich aber auf und bereitete sich auf das Gebet vor: Er bedeckte seinen Kopf mit einem gefalteten Tuch, drehte sein Boot in westliche Richtung und kniete zur ersten Gebetseinheit nieder. Er war

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