Das mohnrote Meer - Roman
nie besonders fromm gewesen und fühlte sich auch jetzt nur zum Beten verpflichtet, weil er die Beerdigung seiner Mutter noch so frisch in Erinnerung hatte. Hinterher jedoch, nachdem er die letzten Silben gesprochen hatte, war er froh: Seine Mutter hätte es sich gewünscht, das wusste er, und das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, würde es ihm gestatten, sich ohne schlechtes Gewissen der Müdigkeit hinzugeben, die sich in den letzten Wochen aufgestaut hatte.
Zehn Meilen flussabwärts, auf dem Raskhali-Badgero, waren die Vorbereitungen für das Dinner auf diverse Hindernisse gestoßen. Schon allein der Spiegelsaal: Er war seit dem Tod des alten Rajas kaum noch benutzt worden, und wie sich zeigte, war einiges darin reparaturbedürftig. Die Kronleuchter hatten etliche ihrer Kerzenhalter eingebüßt, die nun durch Provisorien aus Bindfaden, Holz und sogar Kokosnussfasern ersetzt werden mussten. Die Ergebnisse waren zwar ganz passabel, beraubten die Leuchter jedoch teilweise ihres Glanzes und ließen sie leicht windschief wirken.
Der shīsh mahal wurde durch eine Samtportiere in zwei Hälften geteilt: Der hintere Teil wurde als Speisezimmer benutzt und prunkte mit einem Tisch aus feinstem Koromandel-Ebenholz. Als nun der Vorhang zurückgezogen wurde, stellte sich heraus, dass die polierte Tischplatte infolge mangelnder Pflege vergraut war und eine Skorpionfamilie sich darunter häuslich niedergelassen hatte. Ein Trupp mit Stöcken bewaffneter Bediensteter wurde herbeizitiert, das Getier zu vertreiben, dann musste eine Ente gefangen und geschlachtet werden, damit man die Oberfläche mit ihrem Fett polieren konnte.
Am anderen Ende des Raums, hinter dem Tisch, befand sich ein abgeschirmter Alkoven für die Frauen. Aus diesem Versteck heraus hatten die Geliebten des alten Raja seine Gäste beobachtet. Doch das fein ziselierte Beobachtungsgitter war verrottet. An seiner Stelle wurde auf Elokeshis Betreiben ein Vorhang mit hastig hineingeschnittenen Gucklöchern angebracht, denn sie wollte auf keinen Fall darauf verzichten, die Gäste zu beobachten. Das wiederum weckte in ihr den Wunsch, etwas zur Gestaltung des Abends beizutragen, und so beschloss sie, dass ihre drei Gefährtinnen als unterhaltsame Einlage nach dem Dinner einige Tänze zum Besten geben
sollten. Doch eine Inspektion ergab, dass der Fußboden sich verzogen hatte. Barfuß auf den krummen Brettern zu tanzen, hätte bedeutet, dass die Mädchen Gefahr liefen, sich Splitter einzuziehen. Ein Schreiner musste geholt werden, der die Dielen glatt hobelte.
Kaum war dieser Mangel behoben, tauchte ein neuer auf: Der shīsh mahal war mit einer Garnitur Silberbesteck mit Elfenbeingriffen sowie einem kompletten Essservice der Manufaktur Swinton in England ausgestattet. Da diese Utensilien für unreine, Rindfleisch essende Ausländer reserviert waren, wurden sie unter Verschluss aufbewahrt, um eine Verunreinigung der übrigen Haushaltsgegenstände zu verhindern. Beim Öffnen des Geschirrschranks entdeckte Parimal nun, dass viele Teller fehlten, desgleichen ein großer Teil des Tafelsilbers. Was noch vorhanden war, hätte zwar für vier Gäste gerade ausgereicht, doch die Entdeckung des Diebstahls erzeugte ein Klima unschöner Verdächtigungen, was wiederum zu Handgreiflichkeiten auf dem Küchenboot führte. Als zwei Bedienstete dabei Nasenbeinbrüche davontrugen, sah sich Nil gezwungen, ein Machtwort zu sprechen. So war zwar der Friede wiederhergestellt, aber der Zeitplan geriet so durcheinander, dass Nil nicht mehr wie geplant speisen konnte, bevor seine Gäste eintrafen. Das war fatal, denn es bedeutete, dass er fasten und hungrig zusehen musste, wie die Gäste das ihnen vorgesetzte Festmahl verzehrten. Im Hause Raskhali galten strenge Regeln im Hinblick darauf, mit wem der Raja essen durfte. Unreine Rindfleischesser gehörten nicht zu dem kleinen Kreis – und sogar Elokeshi musste stets für sich allein essen, wenn Nil in ihr Haus kam, um die Nacht mit ihr zu verbringen. Und wenn die Halders ein Dinner gaben, saßen sie höflich mit ihren Gästen bei Tisch, rührten jedoch keine der Speisen an, die auch ihnen vorgesetzt wurden. Um nicht in
Versuchung zu geraten, speisten sie stets vorher, und so hatte Nil es auch an diesem Abend halten wollen. Wegen des Vorfalls auf dem Küchenboot musste er sich nun mit ein paar Handvoll in Milch eingeweichtem Reis begnügen.
Während die Sonne unterging und die Gebete über das Wasser schallten, entdeckte Nil, dass seine guten
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