Das mohnrote Meer - Roman
Raskhali wurden auf bengalische Art die Mahlzeiten in einzelnen Gängen aufgetragen.
Nil hatte die Sitzordnung so gewählt, dass Mr. Burnham ihm gegenüber, Zachary und Mr. Doughty zu seiner Linken und seiner Rechten saßen. Hinter jedem Stuhl stand ein Diener, so war es der Brauch, und obwohl sie alle die Raskhali-Livree trugen, fiel Nil sofort auf, dass ihre Kleider – Payjamas, Turbane und gegürtete chapkans , die ihnen bis zum Knie reichten – sehr schlecht saßen. Da erst erinnerte er sich, dass es sich gar nicht um Diener handelte, sondern um junge Bootsleute, die Parimal in der Eile dienstverpflichtet hatte. Wie unbehaglich
sie sich in ihrer Rolle fühlten, merkte man an ihren nervösen Zuckungen und ihren unruhigen Blicken.
Als man sich nun um den Tisch verteilt hatte, trat eine lange Pause ein, denn Nil und seine Gäste blieben stehen und warteten darauf, dass man ihnen den Stuhl unterschob. Ein kurzer Blick zu Parimal, und Nil wusste, dass die Bootsleute über diesen Teil der Zeremonie nicht unterrichtet worden waren. Vielmehr warteten sie ihrerseits, dass die Gäste sich zu ihnen hin bewegen würden; woher, dachte Nil, sollten sie auch wissen, dass die Stühle dicht an den Tisch zu schieben waren?
Unterdessen ergriff einer der jungen Bootsleute die Initiative und stupste Mr. Doughty am Ellbogen, um anzudeuten, dass sein Stuhl etwa einen Meter hinter ihm bereitstehe. Nil sah, wie dem Lotsen die Röte ins Gesicht stieg, und befahl den Bootsleuten auf Bengali, die Stühle weiter nach vorn zu bringen. Die Anweisung klang so barsch, dass der Jüngste der Bootsleute, der für Zachary zuständig war, den Stuhl packte und ihn so hastig vorwärtsstieß, als ginge es darum, ein Dingi ins Wasser zu schieben. Der Stuhl fuhr Zachary von hinten in die Beine, und er taumelte gegen den Tisch, konnte sich aber abfangen, ohne Schaden zu nehmen.
Nil entschuldigte sich wortreich, doch es gefiel ihm, dass Zachary eher belustigt als gekränkt schien: Der junge Amerikaner hatte in der kurzen Zeit bereits einen sehr günstigen Eindruck auf ihn gemacht, sowohl durch die ungezwungene Eleganz seiner Erscheinung als auch durch sein bescheidenes Auftreten. Die Herkunft eines Fremden erregte oft Nils Neugier: In Bengalen wusste man immer auf Anhieb, wen man vor sich hatte; meist brauchte man nur den Namen zu hören, und schon war klar, welcher Religion und Kaste er angehörte und aus welchem Dorf er kam. Ausländer waren hingegen schwer einzuschätzen: Man konnte nicht einmal Mutmaßungen über
sie anstellen. Mr. Reids Manieren beispielsweise legten die Vermutung nahe, dass er einer alten Adelsfamilie entstammte: Irgendwo hatte Nil einmal gelesen, dass europäische Adelige ihre nachgeborenen Söhne gern nach Amerika schickten. Diese Überlegung veranlasste ihn zu der Frage: »Mr. Reid, wurde Ihre Heimatstadt vielleicht nach einem Lord Baltimore benannt?«
Die Antwort war seltsam unbestimmt – »Nun ja … könnte sein – ich weiß nicht recht …« –, aber Nil beharrte: »War Lord Baltimore womöglich gar einer Ihrer Vorfahren?« Damit erntete er heftiges Kopfschütteln und eine verlegene Verneinung, was ihn jedoch nur noch mehr von der vornehmen Abkunft seines Gastes überzeugte. »Werden Sie bald wieder nach Baltimore zurücksegeln?«, fragte Nil. Fast hätte er »Mylord« hinzugefügt.
»Aber nein, Sir«, erwiderte Zachary. »Als Nächstes geht die Ibis nach Mauritius. Wenn wir früh genug zurück sind, könnte sich dieses Jahr noch eine Fahrt nach China anschließen.«
»Verstehe.« Das erinnerte Nil an seinen eigentlichen Grund für die Einladung, nämlich die Aussichten für eine baldige Besserung der wirtschaftlichen Lage seines Gläubigers auszuloten. Er wandte sich Burnham zu: »Hat sich die Situation in China gebessert?«
Mr. Burnham schüttelte den Kopf. »Nein, Raja Nil Rattan. Nein. Ganz im Gegenteil: Die Lage hat sich erheblich zugespitzt, sodass man bereits offen von einem möglichen Krieg spricht. Das könnte auch durchaus der Grund für die Fahrt der Ibis nach China sein.«
»Ein Krieg?«, fragte Nil fassungslos. »Aber ich habe noch nichts von einem solchen Krieg gehört.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Mr. Burnham mit einem dünnen Lächeln. »Warum sollte sich ein Mann wie Sie mit solchen
Dingen befassen? Sie haben doch auch so alle Hände voll zu tun, mit Ihren vielen Palästen und Zenanas und Badgeros.«
Nil merkte, dass er verspottet wurde, und ihm schwoll der Kamm, doch bevor er sich zu einer
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