Das mohnrote Meer - Roman
Bürger machten bereits ihren ganzen Einfluss für ihn geltend, sagten sie. Alle seine Bekannten setzten sich für ihn ein, und mit vereinten Kräften würden sie fast mit Sicherheit die nötigen Hebel in Bewegung setzten, vielleicht sogar im Rat des Generalgouverneurs. Auf jeden Fall sei es undenkbar, dass ein Angehöriger ihrer Klasse wie ein gemeiner Verbrecher abgeurteilt werde.
Auch Nils Anwalt war vorsichtig optimistisch: Mr. Rowbotham, ein kleiner, zappeliger Mann, war so kampflustig wie die struppigen kleinen Terrier, die man manchmal auf dem Maidan an der Leine zerren sah, an der sie von ihrer Memsahib geführt wurden. Seiner buschigen Augenbrauen und Koteletten wegen sah man von seinem Gesicht fast nichts außer zwei funkelnden schwarzen Augen und einer Nase von der Form und Farbe einer reifen Litschi.
Nachdem er Nils kurze Schilderung des Falls gelesen hatte, gab er eine erste Einschätzung ab. »Lassen Sie mich Ihnen eins sagen, lieber Raja«, sagte er rundheraus. »Es gibt auf der ganzen Welt keine Jury, die Sie freisprechen würde – schon gar nicht eine, die überwiegend aus englischen Kaufleuten und Kolonisten zusammengesetzt ist.«
Das war ein Schock für Nil. »Aber Mr. Rowbotham«, sagte er. »Wollen Sie damit sagen, ich könnte schuldig gesprochen werden?«
»Ich will Ihnen nichts vormachen, mein lieber Raja«, sagte Mr. Rowbotham. »Ich halte es für durchaus möglich, dass ein solches Urteil gefällt wird. Aber es gibt keinen Grund zur Verzweiflung. Ich sehe es so, dass uns das Strafmaß zu interessieren hat, nicht das Urteil als solches. Nach meinem Dafürhalten könnten Sie mit einer Geldstrafe und einigen Verzichtserklärungen
davonkommen. Wenn ich mich recht erinnere, gab es unlängst einen ähnlichen Fall, in dem der Angeklagte neben einer Geldstrafe lediglich dazu verurteilt wurde, dass er an den Pranger gestellt wurde: Er wurde verkehrt herum auf einem Esel sitzend durch Kidderpur geführt!«
Nil blieb der Mund offen stehen, und er flüsterte entsetzt: »Mr. Rowbotham, könnte ein solches Schicksal auch einen Raja von Raskhali ereilen?«
Die Augen des Anwalts funkelten. »Und wenn ja, lieber Raja? Das ist doch nicht das Schlimmste, was einem zustoßen kann, oder? Wäre es nicht schlimmer, wenn man Ihnen Ihren gesamten Besitz aberkennen würde?«
»Keineswegs«, erwiderte Nil prompt. »Nichts könnte schlimmer sein als ein solcher Gesichtsverlust. Da wäre es noch besser, man würde mich von all meinen irdischen Bindungen befreien. Dann könnte ich wenigstens in einer Mansarde leben und Gedichte schreiben – wie Ihr bewundernswerter Mr. Chatterton.«
Der Anwalt runzelte fragend die Stirn. »Mr. Chatterjee, sagen Sie? Meinen Sie meinen Chefkontoristen? Ich versichere Ihnen, lieber Raja, dass er nicht in einer Dachkammer wohnt. Und was seine Gedichte angeht – also das ist das Erste, was ich davon höre.«
NEUNTES KAPITEL
I n der am Fluss gelegenen Stadt Chhapra, eine Tagesreise von Patna entfernt, begegneten Diti und Kalua dem Dafadar wieder, den sie in Ghazipur kennengelernt hatten.
Viele Wochen waren vergangen, seit sie ihre Reise angetreten hatten. Ihre Hoffnungen hatten sich im trügerischen Labyrinth der Sandbänke am Zusammenfluss des Ganges mit seinem ungestümen Nebenfluss, dem Ghagara, zerschlagen, ihr Floß war zertrümmert, ihr letzter satuā verbraucht. Sie mussten nun an den Toren des Tempels von Chhapra betteln.
Beide hatten versucht, Arbeit zu finden, aber das war in Chhapra nicht leicht. Verarmte Durchreisende drängten sich in der Stadt zu Hunderten, und viele von ihnen waren bereit, sich für eine Handvoll Reis fast zu Tode zu schuften. Die meisten waren von der Woge der Blumen, die über die Gegend hinweggerollt war, aus ihren Dörfern vertrieben worden. Das Land, das ihnen einst ein Auskommen gesichert hatte, war nun von der steigenden Flut des Mohns überschwemmt. Nahrung zu beschaffen, war so schwierig geworden, dass die Menschen schon froh waren, an den Blättern lecken zu können, in denen in den Tempeln Opfergaben dargebracht wurden, oder das stärkehaltige Wasser zu trinken, in dem Reis gekocht worden war. Oft hielten Diti und Kalua sich auf diese Weise über Wasser, und hin und wieder, wenn sie Glück hatten, verdiente Kalua als Lastenträger ein wenig Geld.
Als Marktort und Flusshafen wurde Chhapra von vielen
Schiffen angelaufen, und das Beladen und Löschen an den Ghats der Stadt war die einzige Möglichkeit, zu ein paar Kupfermünzen zu kommen.
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