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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Ich bin’s, deine Mutter, siehst du mich nicht?«
    »Aber wie kann das sein? Es hieß doch, du bist tot.« Kabutri berührte das Gesicht ihrer Mutter, strich mit den Fingerspitzen über ihre Augen, ihren Mund. »Bist du’s wirklich? Wie ist das möglich?«
    Diti drückte ihre Tochter noch fester an sich. »Ja, ich bin’s, Kabutri, ich bin nicht tot, ich bin hier, schau mich doch an! Was hat man dir sonst noch von mir gesagt?«
    »Dass du gestorben bist, bevor der Scheiterhaufen angezündet werden konnte, dass eine Frau wie du keine satī werden kann, dass der Himmel es nicht zugelassen hat – dass der Fluss deinen Leichnam fortgetragen hat.«
    Diti nickte zustimmend. Wenn diese Version geglaubt
wurde, war es gut; solange man sie für tot hielt, würde sich niemand auf die Suche nach ihr machen. Kabutri durfte auf keinen Fall etwas anderes sagen, sie durfte kein Wort von diesem Treffen verlauten lassen …
    »Aber was ist denn passiert?«, fragte Kabutri. »Wie bist du da weggekommen?«
    Diti hatte sich sorgfältig eine Erklärung für ihre Tochter zurechtgelegt. Sie hatte beschlossen, Kabutri nichts davon zu sagen, was Chandan Singh getan hatte, auch nicht, dass er ihr leiblicher Vater war, und sie würde nicht von dem Mann sprechen, den Kabutri als ihren Vater gekannt hatte. Sie würde ihr nur sagen, dass man ihr, Diti, Rauschgift verabreicht hatte, um sie zu opfern, und dass sie, während sie noch bewusstlos war, gerettet worden war.
    »Aber wie? Von wem?«
    Diti vergaß die Ausflüchte, die sie sich für Kabutri ausgedacht hatte. Den Kopf ihrer Tochter im Schoß, brachte sie es nicht über sich, sie zu belügen. »Von Kalua«, sagte sie abrupt. »Er war es, der mich gerettet hat.«
    »Kalua hat dich gerettet?«
    War es Entsetzen oder Ungläubigkeit, was in Kabutris Stimme mitschwang? Diti, ohnehin schon von Schuldgefühlen geplagt, begann zu zittern, weil sie glaubte, Kabutri werde ihre Flucht mit Kalua verurteilen, doch als das Mädchen weitersprach, klang es nicht zornig, sondern nur neugierig. »Ist er jetzt bei dir? Wo wollt ihr hin?«
    »Weit weg von hier, in eine Stadt.«
    »In eine Stadt!« Kabutri schlang den Arm um Diti. »Ich will mit«, sagte sie flehend, »nehmt mich mit in eine Stadt!«
    Nichts hätte Diti lieber getan, aber ihr mütterlicher Instinkt gebot ihr etwas anderes. »Dich mitnehmen, betī? Damit du dein Leben lang auf Wanderschaft bist? Wie ich?«

    »Ja, wie du.«
    »Nein.« Diti schüttelte den Kopf. So heftig ihr Herz sich auch danach sehnte, ihre Tochter mitzunehmen – sie wusste, dass sie standhaft bleiben musste. Sie hatte keine Ahnung, wo sie die nächste Mahlzeit hernehmen sollte, geschweige denn, wo sie nächste Woche oder nächsten Monat sein würde. Bei der Schwester ihres Bruders und deren Kindern würde man sich wenigstens um Kabutri kümmern; das Beste war, sie blieb dort, bis …
    »… bis die Zeit gekommen ist, Kabutri. Dann komme ich und hole dich. Glaubst du, ich hätte dich nicht gern bei mir? Glaubst du das wirklich? Weißt du, was es für mich bedeutet, dich hierzulassen? Weißt du das, Kabutri? Weißt du das?«
    Kabutri verstummte, und als sie wieder sprach, sagte sie etwas, das Diti nie vergessen sollte:
    »Und wenn du wiederkommst, bringst du mir dann Armreife mit?«

    Mochte Babu Nob Kissin der Welt auch noch so müde sein, er würde sie noch eine Zeit lang ertragen müssen. Die besten Chancen, einen Platz auf der Ibis zu bekommen, rechnete er sich für den Fall aus, dass er sich als Supercargo des Schiffes bewarb, und diesen Posten, das wusste er, würde er kaum bekommen, wenn er den Eindruck erweckte, das Interesse an seiner Arbeit verloren zu haben. Und noch etwas wusste er: Sollte Mr. Burnham auch nur den geringsten Verdacht hegen, dass er mit seiner Bewerbung irgendwelche unchristlichen Absichten verfolgte, wäre alles aus gewesen. So kam er vorerst zu dem Schluss, dass er sich mit voller Kraft seinen Pflichten widmen müsse und sich möglichst wenig von den Umwälzungen anmerken lassen dürfe, die sich in seinem Inneren vollzogen. Das war leichter gesagt als getan, denn so sehr er
sich auch bemühte, seine Gewohnheiten beizubehalten: Immer deutlicher wurde ihm bewusst, dass er die Welt mit ganz anderen Augen sah als früher.
    Manchmal hatte er urplötzlich höchst eindringliche Visionen. Eines Tages fuhr er in einem Boot Tolly’s Nala hinauf, als sein Blick auf eine Holzhütte fiel, die auf mit Mangroven bewachsenem Brachland stand. Es war nur eine

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