Das mohnrote Meer - Roman
es zugelassen, dass der Raja von Raskhali seine Kaste verlor, noch bevor er überhaupt vor Gericht gestellt wurde. Nachts wurden die Türen von Nils Apartment leicht bewacht, von Polizisten, die ihm mit der größten Unterwürfigkeit begegneten; konnte er nicht schlafen, unterhielten ihn die Wachen, indem sie Würfel, Karten oder pachīsī mit ihm spielten. Tagsüber durfte Nil so viele Besucher empfangen, wie er wollte, und die Gumashtas und Mutsaddis des Zamindars kamen so oft, dass er die Geschäfte seines Hauses fast uneingeschränkt vom Gefängnis aus weiterführen konnte.
Nil war für all diese Zugeständnisse dankbar, doch am wichtigsten war ihm ein Privileg, das man in der Öffentlichkeit nicht erwähnen konnte: das Recht, die saubere, gut beleuchtete Toilette zu benutzen, die eigentlich für Offiziere reserviert war. Nil war dazu erzogen worden, seinen Körper und dessen Funktionen mit penibler Reinlichkeit zu betrachten, die fast schon ans Okkulte grenzte. Das war größtenteils das Werk seiner Mutter: Körperliche Sauberkeit war für sie eine Sorge, die sie so umtrieb, dass sie sich keinen Augenblick Ruhe und Frieden gönnte. Obwohl in mancher Hinsicht eine stille, sanfte und liebevolle Frau, waren für sie die Sitten und Gebräuche ihrer Kaste und ihrer Gesellschaftsschicht nicht einfach nur Verhaltensregeln, sondern ihr Lebensinhalt. Von ihrem Gatten vernachlässigt und in einem düsteren Flügel des Palastes wohnend, hatte sie ihre beträchtlichen Geisteskräfte dafür genutzt, fantastisch komplizierte Rituale der Reinlichkeit und Säuberung zu ersinnen. Nicht nur wusch sie sich vor und nach jeder Mahlzeit eine halbe Stunde lang die Hände, sie musste sich auch davon überzeugen, dass das Gefäß, aus dem das Wasser ausgegossen wurde, absolut sauber war, desgleichen die Eimer, in denen es aus dem Brunnen geholt wurde, und so weiter. Ihre schlimmsten Ängste galten den Männern und Frauen, denen es oblag, die Toiletten des Palasts zu säubern und die Fäkalien zu beseitigen. Vor diesen Menschen empfand sie einen so unaussprechlichen Ekel, dass sie peinlichst darauf achtete, ihnen auf keinen Fall zu begegnen. Was die Gerätschaften dieser Bediensteten anging – jhārūs aus Palmblätterbüscheln –, so verursachten ihr weder Schwert noch Schlange ein so tiefes Unbehagen wie diese Gegenstände, deren Anblick ihr tagelang nachgehen konnte. Diese unnatürliche, von Ängsten und Zwängen bestimmte Lebensweise führte schließlich dazu, dass sie starb, als Nil erst
zwölf war. Ihren Sauberkeitsdrang hatte er zu der Zeit allerdings schon übernommen. Deshalb war für Nil kein anderer Aspekt seiner Gefangenschaft so entsetzlich wie der Gedanke daran, eine Latrine mit Dutzenden gewöhnlicher Häftlinge teilen zu müssen.
Um zur Toilette der Offiziere zu gelangen, musste er durch mehrere Korridore und Höfe, und auf dem Weg bekam er andere Insassen des Gefängnisses zu sehen, die im verzweifelten Ringen nach Licht und Luft häufig das Gesicht an die Gitterstäbe pressten wie in die Falle gegangene Ratten. Angesichts dieser Entbehrungen wusste Nil umso mehr zu schätzen, wie gut er vergleichsweise behandelt wurde: Die britischen Behörden, so schien es, wollten der Öffentlichkeit beweisen, dass sie dem Raja von Raskhali die größtmögliche Rücksicht angedeihen ließen. Die Unbequemlichkeiten, mit denen sich Nil abfinden musste, waren so gering, dass er sich fast hätte vorstellen können, er sei in Ferien, wäre da nicht das Besuchsverbot für Frauen und Kinder gewesen. Doch auch diesen Verlust konnte er verschmerzen, denn er hätte unter keinen Umständen geduldet, dass seine Gattin oder sein Sohn sich durch das Betreten eines Gefängnisses beschmutzten. Andererseits hätte er Elokeshi gern gesehen, doch von ihr hatte er seit seiner Verhaftung nichts mehr gehört. Man nahm an, sie sei heimlich aus der Stadt verschwunden, um nicht von der Polizei verhört zu werden. Nil konnte sich über ein so umsichtiges Verhalten nicht beklagen.
Nils Kerker war so komfortabel, dass er Mühe hatte, seine juristischen Schwierigkeiten ernst zu nehmen. Seine Verwandten unter den Adeligen von Kalkutta hatten ihm gesagt, es solle ein Schauprozess werden, mit dem man die Öffentlichkeit davon überzeugen wolle, dass die britische Justiz gerechte Urteile fälle. Man werde ihn freisprechen oder mit
einer symbolischen Strafe davonkommen lassen. Immer wieder versicherten sie ihm, es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Angesehene
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