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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Dort hielten Diti und Kalua sich meist auf, wenn sie gerade nicht am Tempel bettelten. Nachts war es am Ufer wesentlich kühler als im überfüllten Stadtinneren, und so schliefen sie hier auch. Sobald die Regenzeit einsetzte, würden sie sich einen anderen Platz suchen müssen, aber bis dahin war es hier gut auszuhalten. Jeden Abend, wenn sie dem Fluss zustrebten, sagte Diti: »Wenn die Sonne aufgeht, wird sich der Weg zeigen.« So fest glaubte sie daran, dass sie auch an den schlimmsten Tagen die Hoffnung nicht sinken ließ.
    Eines Morgens, als die Sonne ein erstes Glühen über den östlichen Himmel sandte, erblickten Diti und Kalua beim Aufwachen einen hochgewachsenen, gut gekleideten bābū mit einem weißen Schnauzbart, der das Ghat auf und ab schritt und sich zornig über die Säumigkeit seines Bootsführers beklagte. Diti erkannte den Mann sofort. »Das ist Ramsaranji, der Dafadar«, flüsterte sie Kalua zu. »Der damals in Ghazipur mit uns gefahren ist. Geh zu ihm, vielleicht kannst du ihm helfen.«
    Kalua wischte sich den Staub ab, legte respektvoll die Hände aneinander und ging zu dem Dafadar hinüber. Wenige Minuten später kam er zurück und berichtete, dass der Dafadar ans andere Ufer gerudert werden wolle, um eine Gruppe Männer abzuholen. Es müsse sofort sein, denn er habe erfahren, dass die Opiumflotte erwartet und der Fluss später für jeden anderen Verkehr gesperrt werde.
    »Er zahlt mir zwei dām und einen adhelā , wenn ich ihn hinüberbringe«, sagte Kalua.
    »Zwei dām und einen adhelā! Und du stehst da wie ein Baum!«, rief Diti aus. »Was überlegst du noch? Los, beeil dich!«
    Mehrere Stunden später saß Diti am Eingang des berühmten
Ambaji-Tempels, als sie Kalua die Gasse entlangkommen sah. Noch ehe sie etwas fragen konnte, sagte er: »Ich erzähle dir alles, aber erst lass uns essen, komm.«
    »Essen? Sie haben dir etwas zu essen mitgegeben?«
    Er schob die hungrige Menge, die sich um sie geschart hatte, mit den Ellenbogen beiseite, und erst, als sie außer Sicht waren, zeigte er Diti, was er mitgebracht hatte: ein in Blätter gewickeltes Päckchen saftiger, mit satuā gefüllter parāthās , eingelegte Mangos, gewürzte Stampfkartoffeln und sogar einiges Zuckergemüse und noch mehr Süßes.
    Nachdem sie das Essen im Schatten eines Baums hinuntergeschlungen hatten, blieben sie noch eine Weile sitzen, und Kalua gab Diti einen detaillierten Bericht. Am anderen Ufer hatten acht Männer und ein Vertreter des Dafadars sie erwartet. Die Männer hatten gleich an Ort und Stelle ihre Namen auf girmits eintragen lassen, die Vereinbarungen waren gesiegelt worden, und dann hatte jeder von ihnen eine Decke, mehrere Kleidungsstücke und einen Messingtopf bekommen. Zur Feier ihres neuen Status als Girmitiyas hatte man ihnen etwas zu essen vorgesetzt, und die Reste dieses Festmahls hatte der Dafadar Kalua übergeben, wenn auch unter Protest vonseiten der Angeworbenen: Hunger war keinem von ihnen fremd, und auch mit vollem Magen hatte es sie empört, so viel Essen verschenkt zu sehen. Doch Ramsaranji hatte ihnen gesagt, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen, von nun an würden sie bei jeder Mahlzeit satt werden, und bis sie Marich erreichten, brauchten sie nur eins zu tun: essen und stark werden.
    Diese Versicherung war auf großes Misstrauen gestoßen. »Warum?«, hatte einer der Männer gefragt. »Werden wir für den Schlachter gemästet, wie Ziegen für das Id-Fest?«
    Der Dafadar hatte gelacht und dem Mann gesagt, er selbst werde gemästete Ziegen schmausen.

    Auf der Rückfahrt hatte Ramsaranji plötzlich gemeint, wenn Kalua Lust habe, sich ihnen anzuschließen, sei er willkommen, große, starke Männer würden immer gebraucht.
    Kaluas Kopf begann sich zu drehen. »Ich?«, fragte er. »Aber ich bin verheiratet, Malik.«
    »Macht nichts«, sagte der Dafadar. »Viele Girmitiyas nehmen ihre Frauen mit. Wir haben Nachricht aus Marich, dass dort mehr Frauen gebraucht werden. Wenn deine Frau mit will, nehme ich euch beide.«
    Kalua dachte eine Weile darüber nach und fragte dann: »Und, Jat, was ist mit der Kaste?«
    »Die Kaste spielt keine Rolle«, antwortete der Dafadar. »Männer aus allen möglichen Kasten verpflichten sich: Brahmanen, Ahirs, Chamaren, Telis. Jung, kräftig und gesund müssen sie sein, darauf kommt es an.«
    Kalua hatte nichts mehr zu sagen gewusst und sich mit aller Kraft in die Ruder gelegt. Als das Boot anlegte, hatte Ramsaranji sein Angebot wiederholt, diesmal jedoch mit

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