Das mohnrote Meer - Roman
einer Warnung: »Denk daran, du hast nur eine Nacht Zeit, dich zu entscheiden. Wir fahren morgen; wenn ihr mit wollt, müsst ihr bei Tagesanbruch da sein. Seid also pünktlich.«
Nachdem Kalua seinen Bericht beendet hatte, schaute er Diti an, und sie sah, dass in seinen riesigen dunklen Augen Fragen glommen, die er nicht zu beantworten wusste. Sie war vom vielen Essen so erschöpft, dass sie schweigend zugehört hatte, jetzt aber kochte ihr Kopf von zahllosen Ängsten über, und sie sprang erregt auf. Wie konnte er glauben, dass sie ihre Tochter für immer verlassen würde? Dass sie an einen Ort gehen würde, der, soviel sie wusste, von Dämonen und pishāchas bewohnt war, ganz zu schweigen von allen möglichen unaussprechlichen Tieren? Woher wollte Kalua oder irgendjemand anderer wissen, ob die Angeworbenen nicht doch für den
Schlachter gemästet wurden? Weshalb sonst wurden sie so großzügig bewirtet? War es normal in diesen Zeiten, ohne Hintergedanken so verschwenderisch zu sein?
»Sag mir, Kalua« – ihre Augen füllten sich mit Tränen – »hast du mich dafür gerettet? Um mich den Dämonen vorzuwerfen? Da hättest du mich besser im Feuer sterben lassen …«
Zu den kleinen Tätigkeiten, mit denen Paulette sich ihren Wohltätern nützlich zu machen suchte, gehörte es, Tischkarten für die Essenseinladungen der Burnhams, für Kirchenfrühstücke und sonstige Bewirtungen zu schreiben. Von behaglicher, gelassener Gemütsart, verwandte Mrs. Burnham selten viel Mühe auf die Vorbereitungen; am liebsten traf sie sie im Bett. Als Erste wurden gewöhnlich der Ober-Bobachi und der Chef-Khansama zu ihr hereingeführt, um den Speisezettel mit ihr zu besprechen. Aus Gründen der Schicklichkeit ließ Mrs. Burnham während dieser Konferenzen ihre Nachthaube auf und das Moskitonetz unten. War dann Paulette an der Reihe einzutreten, wurde das Netz beiseitegezogen, und meist wurde sie aufgefordert, auf dem Bett der Bara Bibi Platz zu nehmen und ihr über die Schulter zu schauen, während sie die Sitzordnung austüftelte und auf einer Schiefertafel Namen notierte und Pläne zeichnete. Eines Nachmittags wurde Paulette wieder zu Mrs. Burnham gerufen, um ihr bei der Vorbereitung eines Bara Khana zu helfen.
Für Paulette war die Durchsicht von Mrs. Burnhams Tischkarten meist eine harte Prüfung, denn bei ihrem niederen Rang in der gesellschaftlichen Hierarchie kam sie fast immer »mittschiffs« zu sitzen, wie die Bibi es gern nannte, nämlich in der Regel zwischen den am wenigsten willkommenen Gästen: vom Kanonendonner ertaubten Colonels, Steuereinnehmern, die kein anderes Thema kannten als die veranschlagten
Einnahmen ihres Bezirks, Laienpredigern, die sich über die verstockten Heiden ereiferten, Pflanzern mit indigofleckigen Händen und dergleichen Einfaltspinseln mehr. Angesichts dieser Erfahrungen mit den Bara Khanas der Burnhams fragte Paulette nun nicht ohne Beklommenheit: »Gibt es einen besonderen Anlass, Madame?«
»Aber ja, Paggli.« Mrs. Burnham reckte sich träge. »Mr. Burnham will einen richtigen Tamasha. Für Kapitän Chillingworth, der gerade aus Kanton eingetroffen ist.«
Paulette warf einen Blick auf die Schiefertafel und sah, dass der Kapitän bereits an Bibis Tischende platziert worden war. Erfreut über die Gelegenheit, ihre Kenntnisse der Memsahib-Etikette unter Beweis zu stellen, sagte sie voll Stolz: »Wenn der Kapitän Ihr Tischnachbar ist, Madame, muss dann seine Frau nicht neben Mr. Burnham sitzen?«
»Seine Frau?« Die Kreide zog sich von der Tafel zurück. »Aber meine Liebe, eine Mrs. Chillingworth gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr.«
»Oh. Dann ist er – wie sagt man – veuf? «
»Du meinst Witwer? Nein, liebe Paggli, das ist er nicht. Das ist eine ziemlich traurige Geschichte …«
»Ja, Madame?«
Das genügte als Ermunterung: Mrs. Burnham lehnte sich bequem in die Kissen zurück und begann zu erzählen. »Er ist aus Devonshire und mit Meerwasser getauft, wie man so sagt. Diese alten Seebären kehren zum Heiraten gern in ihren Heimathafen zurück, verstehst du, und das hat er auch getan. Hat sich ein rotbackiges West-Country-Mädel gesucht, frisch aus dem Kinderzimmer, und sie mit in den Osten genommen. Unsere hiesigen Gören waren ihm nicht Mem genug. Aber wie nicht anders zu erwarten, nahm die Sache kein gutes Ende.«
»Warum, Madame? Was ist passiert?«
»Einmal fuhr der Kapitän nach Kanton«, sagte die Bibi, »und wie immer vergingen Monate, und seine Frau saß
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