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Das Molekular-Café

Das Molekular-Café

Titel: Das Molekular-Café Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schulungskurses hat er sich anhand von juristischen
Präzedenzfällen ein eigenes Weltverständnis
erarbeitet.«
»Und wie kann ich ihn interviewen?« fragte Doris.
»Ganz einfach, Doris-san. Sprechen Sie japanisch oder englisch.
Er versteht beides. Zuerst sagen Sie Saibantschoo, das heißt Herr
Richter.«
Doris, merklich aufgeregt, brachte exakt akzentuierend ein paar Sätze Japanisch heraus.
Sekunden später füllte Amanoiwatos Stimme den Saal aus.
Wainwright wurde es flau in der Magengegend. Doris dagegen war hell begeistert.
»Was sagt man dazu, er hat’s rausbekommen, Sejitschi!«
»Freilich, Doris-san. Dabei war es eine ziemlich knifflige Frage.
Doch leider, die Zeit für das Interview ist um. Wir müssen
gehen.«
»Schade!« rief Doris enttäuscht.
Sie begaben sich wieder in den Gang, und die Wand glitt lautlos hinter ihnen zu.
Doris fiel plötzlich etwas ein. »Ja, aber was heißt›tanpakuschitsu‹?«
    Gendsi lachte ein leises Lachen. »Er nennt die Menschen Eiweißsysteme.«
»Was haben Sie ihm denn nun gesagt, Doris, und was hat er
geantwortet?« fragte Wainwright voller Ungeduld.
»Rücken Sie schon ‘raus damit!«
»Mir kam der weise König Salomo in den Sinn, und da habe ich
gefragt: Saibantschoo, zwei Frauen streiten um ein Kind, und jede
behauptet, es sei ihrs. Wie soll man feststellen, wem das Kind
gehört? Seine Antwort: Man soll ihnen den Vorschlag machen, das
Streitobjekt in zwei gleiche Teile zu zerlegen, streng nach der
vertikalen Achse der Symmetrie, damit keine von beiden benachteiligt
wird. Diejenige, die Protest einlegt, und sei es eine Millisekunde eher
als die andere, ist die richtige Mutter, denn sie wird eher auf das
kleine ›tanpakuschitsu‹ verzichten als eine Unterbrechung
seines Stoffwechsels dulden. Wahrlich, ein salomonisches Urteil, wissen
Sie, nur in ganz anderem Gewand. Sollte er die Bibel gelesen
haben?«
»Die Bibel? Natürlich nicht. Zu dem Schluß ist er selbst gekommen.«
»Warten Sie mal«, sagte Wainwright, »soll das heißen, er kennt so was wie Mitleid?«
»Mitleid?« Gendsi lachte und entblößte zwei
gerade Reihen gelber Zähne. »Was liegt dieser Emotion
zugrunde? Unbewußtes Begreifen der Zweckmäßigkeit oder
meinetwegen auch ein fanatisches Besitzergefühl, das den Gedanken
an Verlust nicht zuläßt, zum Beispiel der Mutterinstinkt?
Ich glaube, dieser Begriff ist ihm bekannt, ist in seinem Rechensystem
enthalten.«
Sie gingen ins Café zurück und setzten sich an einen Tisch.
»Unser Verhalten wird doch immer von irgendwelchen Emotionen
stimuliert«, fuhr Gendsi fort, »manchmal eben auch vom
Mitleid.«
»Aber wohl meist Mitleid mit dem eigenen Ich«, warf Wainwright ironisch ein.
»Einverstanden, Mr. Wainwright. Und der Richter muß die
emotionalen Qualitäten einkalkulieren, ins richtige
Verhältnis setzen und ausdeuten können, als mögliche
Beweggründe menschlichen Verhaltens.«
»Er selbst ist doch zu echtem Mitgefühl gar nicht
fähig.« Nachdenklich betrommelte Doris ihren Notizblock mit
dem Tintenstift. »Ich finde, ein Richter muß Zorn, Angst,
Mitleid haben können, sonst wird er das Verhalten andrer nie
verstehen.«
»Nicht unbedingt«, sagte Gendsi. »Ein Eunuch kann zum
Beispiel verstandesmäßig das Liebesgefühl
erfassen.«
»Mitleid ist ein höchst alogisches Empfinden«,
beharrte Doris. »Der Mensch unterscheidet sich ja von der
Maschine, sei sie noch so perfektioniert, gerade durch die
Fähigkeit, entgegen jeder Logik handeln zu können. Er bekommt
es fertig, sich eines verwundeten feindlichen Soldaten auf dem
Schlachtfeld anzunehmen, um ihn im Lazarett gesund zu pflegen.«
»Und wieso glauben Sie, daß der Neuroid dazu nicht
fähig wäre?« wandte Gendsi ein. »Was wissen wir,
wie er die zwischenmenschlichen Beziehungen wertet? Womöglich
verwendet er ganz andere Kriterien. Wer ahnt schon, welche
Verknüpfungen in dieser hochkomplizierten Struktur von
Neuristornetzen zustande kommen?« Er warf einen Blick zur Uhr.
»Ich muß leider gehn.« Mit einer Verbeugung empfahl
er sich und verschwand.
»Irrsinnig spannend!« zwitscherte Doris, eifrig kritzelnd.
Melodiöses Klingeln. Wainwright nahm den Telefonhörer auf, und augenblicklich verfinsterte sich seine Miene.
»Schöne Bescherung«, sagte er. »Mein Transport ist in die Luft gegangen.«
»Atomkriegsgegner, oder?«
»Na klar.« Wainwright wählte die Nummer des Direktors
von der Kyuukoo-Umpan. »Hallo, Mr. Mitsukawa, ich fliege heute um
sieben Uhr dreißig. Die Versicherungssumme wollen

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