Das Molekular-Café
Und plötzlich hörte er den Zug ganz in
der Nähe rattern. An den Bambusstämmen jagte ein
schwarzer Schatten vorbei. Kein Zug, o nein, ein Dämon! Ein
Zug kommt nicht so wild dahergeschossen. Angstschlotternd
rannte Toschio über die Schienen, stolperte, fiel.
Zusammengerollt blieb er liegen und hielt sich beide Ohren
zu, um das Brausen des fliegenden Dämons nicht zu hören. Da, ein peitschendes Knackgeräusch! Der riesige
Elektromagnet im Sockel des grauen Turms war in Aktion
getreten. Bei voller Fahrt überfuhr Inasuma die Weiche und
raste auf das zweihundert Meter lange Abstellgleis mit dem
Prellbock aus Stahlbeton. Im gleichen Augenblick ein
dumpfer Knall, daß die Erde bebte. Dann Krachen und
Knirschen von Metall, markerschütternd. Kurz darauf
Totenstille.
Eine schwarze Wolke fiel langsam auf die Bambuswipfel.
Von allen Seiten kamen Frauen gerannt und lamentierten:
»Ma! Kawaissoda!«
Toschio lag immer noch da, drückte sich an die Schienen,
wagte nicht, den Kopf zu heben. Er war gerettet worden.
Oma Nao hatte, scheint’s, für ihn gebetet.
Es war dreizehn Uhr elf Ortszeit.
Unter dem raketenförmigen Wolkenkratzerdach
der Kyuukoo-Umpan befand sich das Domizil von Denschi-Boß: ein
Wirrwarr von Leitungen, Assoziatoren und Rezeptoren, das den ganzen
Raum beanspruchte. Scheinbar chaotisch verschlungen, schwebten zahllose
filigranfeine Neuristornetze übereinander, ineinander,
nebeneinander, koppelten Assoziatoren mit Rezeptoren. Denschi-Boß
war eine Konstruktion der höchstentwickelten Neurodynamik. Hier
gab es weder rot aufleuchtende Kontrollampen noch hundertäugige
Instrumententafeln, auch keine monotonen Reihen von Schaltknöpfen.
Gespenstische Stille. Halbdunkel. Darin huschte auf Millionen Wegen der
Elektronengedanke dahin, sich an den Schaltstellen mannigfaltig
kreuzend und verzweigend. Auf Unterstützung von Menschenhand war
Denschi-Boß nicht angewiesen. Was sollten ihm der wenig
verläßliche Intellekt, die trügerischen Emotionen
seiner Erbauer? Eigene Sinnesorgane informierten ihn über jede
Bewegung auf den Schienenwegen der Kyuukoo-Umpan. Fernsehkameras und
Termolokatoren waren seine Augen, Fernsteuerungsleitungen seine
Hände. Er sah alles, wußte alles, tat alles selbst,
speicherte im Gedächtnis Gran für Gran der kostbaren,
täglich gesammelten Erfahrung.
Und dennoch saß da, bequem in einen Sessel
gelehnt, ein Mann. Erdrückend stumpfsinnige
Kontrolltätigkeit. Es passierte nichts, nichts, was einen Eingriff
erforderlich gemacht hätte. Nur Inasumas Sondereinsatz bewahrte
den Mann vorm Überschnappen. Die Dienstvorschrift gestattete nicht
einmal Lesen am Arbeitsplatz, einzig und allein Rauchen war erlaubt.
Und dann diese Stille! Wie im schalldichten Trainingsraum für
Kosmonauten.
Der Mann warf die Schläfrigkeit ab wie einen
schweren Mantel, stand auf und ging zum Kontrollbildschirm des
Abschnitts Taruegawa-eki. Irgendwas machte ihn stutzig. Da war ein
feines Zirpen. Oder klangen ihm von der ekelhaften Stille schon die
Ohren? Der Ton nahm rapide zu. Jetzt hatte er bereits normale
Lautstärke. Und plötzlich brach er ab. Die gewohnte Stille
war so frappierend, daß der Mann wie angewurzelt stehenblieb.
Dann stürzte er zur Alarmanlage. Seine Augen wurden weit vor
Schreck: Denschi-Boß hatte sich abgeschaltet! Das war sein Tod, sein Tod als Persönlichkeit. Denn ein Neuroid, der sich
abschaltet, tilgt damit gänzlich sein Gedächtnis.
Natürlich kann man ihn wieder einschalten, aber das ist dann eine
andere Maschine, leer;, ahnungslos, ein unbeschriebenes Blatt.
Der Mann schlug eine runde Scheibe ein, um die
Chiffrenummer eines Telekommandos zu wählen, die alle
vierundzwanzig Stunden gewechselt wurde. Überall auf den Strecken
der Kyuukoo-Umpan griffen Lokführer – alarmierte Menschen
oder gleichmütige Automaten – zur Notbremse. Ein Ruck, und
Züge blieben kreischend stehen, Passagiere fielen durcheinander:
die einzige Möglichkeit, einem Chaos zu entrinnen für die
halbe Stunde, die benötigt wurde, um auf Handsteuerung
überzugehen.
Erst dann bemerkte der Wärter die
rotflammenden Signale auf dem Mnemokontrollschema. Zugunglück am
Rangierbahnhof Taruegawa-eki!
Über die sonnenüberflutete Kaidai-Avenue quirlte ein bunter
Strom von Fahrzeugen und Passanten, strudelte
vorbei an Geschäften, Cafés, Parkplätzen. Auf dem
Vorplatz des Justizpalastes hielt ein Taxi. Wainwright zahlte und stieg
aus.
Das Gebäude sah aus wie eine Riesenkugel.
Obendrauf eine flache Schale. Um die
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