Das Mondkind (German Edition)
Dienstbotentrakt verlassen und die Türen stehen weit offen, als hätte das gesamte Personal einem dringenden Ruf oder einer ernsten Warnung Folge geleistet.
Seine Intuition zieht ihn zum südlichen Treppenhaus und die Wendeltreppe hinunter, deren Stufen in den Keller führen. Dabei umklammert er das dekorative Bronzegeländer, um Halt zu finden. Die Tür am unteren Ende der Treppe lässt sich nicht öffnen.
In dem riesigen Keller gibt es einen Raum mit einer Stahltür, die immer abgeschlossen ist. Man hat ihm gesagt, es handle sich um ein feuerfestes Gewölbe, das als Tresorraum genutzt wird. Dort w ü rden unersetzliche Erbstücke von großem Wert aufbewahrt.
Aber die Haupttür zum Rest des Kellers ist bisher noch nie abgeschlossen gewesen. Er drückt noch einmal den Türgriff herunter, jedoch ohne Erfolg.
Hinter der Tür sind in der Ferne gedämpfte Stimmen zu vernehmen, die sich im Takt miteinander heben und senken. Gesang oder ein Sprechchor. Crispin kann die Worte nicht verstehen, aber der Rhythmus ist bedrohlich.
Obwohl es die Stimmen von Erwachsenen sind, flüstert Crispin, während er seinen Körper bei dem Versuch, sie gewaltsam zu öffnen, an die Tür presst: » Mirabell? «
Es gibt eine weitere Tür am unteren Ende der nördlichen Treppe, einen zweiten Zugang zum Keller. Vielleicht wird diese Tür nicht abgeschlossen sein. Und der Aufzug fährt in alle Stockwerke.
Als Crispin sich umdreht, um die Treppe wieder hinaufzusteigen, ist der Koch Merripen unmittelbar hinter ihm. Merripen trägt einen langen Morgenmantel aus schwarzer Seide und hält in der Hand eine Thermosflasche aus Edelstahl, deren Deckel er aufgeschraubt hat.
9
3. Dezember, drei Jahre und vier Monate später …
In dem weitgehend dunklen Restaurant in der obersten Etage des vierstöckigen Kaufhauses sitzen Crispin und das Mädchen einander bei Kerzenschein in einer Nische gegenüber.
Vor seinem Eintreffen hat sie Sandwichs vorbereitet, mit Hühnerbrust, Provolone, Aioli und Brunnenkresse. Zu den Sandwichs serviert sie Kartoffelchips und kleine eingelegte Gurken, die sie Cornichons nennt.
Sie ist sechzehn, wirkt aber so, als sei sie mindestens achtzehn. Sie arbeitet daran, älter auszusehen.
Während der ersten Jahre hat Crispin mit so wenigen Menschen gesprochen, dass es ihn nicht wundern würde, wenn er den Willen oder sogar die Fähigkeit verloren hätte, mit jemandem zu sprechen. Aber in der Gesellschaft dieses Mädchens fühlt er sich wohl.
»Hey, Junge«, sagt sie.
»Hey.«
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ich komme zurecht.«
»Sie sind auf der Suche nach dir?«
»Sie werden immer nach mir suchen.«
»Dein Hund ist immer noch goldig.«
Harley liegt unter dem Tisch auf ihren Füßen.
»Und er riecht gut«, sagt sie.
»Auf die eine oder andere Weise kommen wir ziemlich regelmäßig zu einem Bad.«
»Hat er in der letzten Zeit Geld für dich gefunden?«
»Er hat mich eines Nachts in dieses Parkhaus geführt.«
»Wollte der alte Harley sich etwa motorisieren?«
»Er wollte sich dort schlafen legen. Ich habe herausgefunden, warum.«
»Ist in Parkhäusern normalerweise Geld zu holen?«
»Diesmal war dort Geld zu holen. Um drei Uhr morgens treffen sich ein paar Typen zu einer Übergabe.«
»Wir können uns denken, was dort übergeben wurde.«
»Sie wissen nicht, dass wir da sind, Harley und ich.«
»Deshalb seid ihr noch am Leben.«
»Sie bekommen Streit miteinander.«
»Es wird geschossen.«
»Ein bisschen. Ein Bulle muss in der Gegend sein. Plötzlich ertönt eine Sirene.«
»Also trennen sie sich voneinander.«
»Sie hauen so schnell ab, dass es nach verbranntem Gummi riecht. Und sie nehmen sich nicht die Zeit, alles aufzusammeln, was ihnen runtergefallen ist, als die Schießerei begonnen hat.«
»Und ein Teil davon war Geld«, vermutet sie.
»Ein reichlicher Teil davon.«
Sie seufzt. »Im Broderick’s geht es immer ruhig und gesittet zu.«
Ihr Geburtsname ist Daisy Jean Sims. Jetzt ist sie der Welt unter dem Namen Amity Onawa bekannt.
Vor zwei Jahren war ihr Haar lang und blond und ihre Augen waren saphirblau. Ihre Augen sind immer noch blau, aber ihr Haar ist jetzt kurz und schwarz.
In einer normaleren Zeit hatte sie einen Vater, eine Mutter und einen jüngeren Bruder, der Michael hieß. Eines Nachts wurden sie alle in ihren Betten ermordet …
In jener Nacht verschont der Mörder mit dem Milchgesicht nur sie. Ohne ihr Wissen hat er sie seit einiger Zeit aus der Ferne beobachtet.
Mit dem Blut
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