Das Mondkind (German Edition)
macht er sich auf den Weg zu der breiten Lieferantenzufahrt hinter dem Kaufhaus.
Sein Atem bildet Wolken, als atme er Geister aus. Schnee ist schon für die Nacht vorhergesagt.
An diesem ersten Sonntag im Dezember, eine Stunde vor Ladenschluss, werden von dem Versand- und Waren eingangslager im obersten Untergeschoss des Gebäudes keine Lieferungen mehr entgegengenommen und keine Waren mehr versendet.
Am unteren Ende der zweispurigen Rampe ist das automatische Tor der Ladebucht heruntergelassen und die Personentür zu. Zu, aber nicht verschlossen.
Crispin trägt eine abgelaufene Kreditkarte mit sich herum, die er vor zwei Jahren in einem Abfalleimer gefunden hat. Er schiebt sie in den Spalt zwischen der Tür und dem Türrahmen, übt Druck auf die Falle aus und schiebt den abgeschrägten Bolzen auf diese Weise aus der Schließplatte. Die Tür geht nach innen auf.
Falls ein Posten im Wachraum gerade zufällig auf einen Monitor blickt, der mit der Kamera über dem breiten Tor der Bucht verbunden ist, wird Crispin Ärger bekommen oder zumindest weggejagt werden.
Aber dazu kommt es nie. Vor einem Jahr hat ihm das Phantom von Broderick’s erklärt, während der Ladenöffnungszeiten konzentrierten sich die Sicherheitskräfte, die damit betraut sind, die zahlreichen Kameras des Kaufhauses auf Monitoren zu beobachten, in neunundneunzig Prozent der Zeit auf das Innere des Kaufhauses – auf der Suche nach Ladendieben.
Wenn er erst einmal drin ist, verlässt sich Crispin darauf, dass der kluge Hund ihn führt.
Da die letzten Sendungen des Tages um siebzehn Uhr das Lager verlassen haben und die letzten Waren um achtzehn Uhr geliefert wurden, sind die Leute vom Lager alle bereits nach Hause gegangen, mit Ausnahme des stellvertretenden Abteilungsleiters Denny Plummer, der von zwölf Uhr mittags bis Ladenschluss um einundzwanzig Uhr arbeitet.
Wenn ein Dutzend Angestellte hier beschäftigt wären, bestünde für Crispin kaum Hoffnung, sich heimlich ins Kaufhaus schleichen zu können, um dort die Nacht zu verbringen. Aber wenn er nur Denny Plummer aus dem Weg gehen muss, kann er sich auf den ausgeprägten Geruchssinn des Hundes verlassen, der den stellvertretenden Abteilungsleiter riechen und meiden wird.
Ein Drittel des riesigen Untergeschosses nimmt der haus eigene Fuhrpark mit Lieferwagen in verschiedenen Größen ein. Ein weiteres Drittel steht voller Kisten mit neuer Ware, die auf Paletten gestapelt sind und darauf warten, geöffnet zu werden. Das letzte Drittel wird nicht genutzt.
In wirtschaftlich besseren Zeiten umfasste der Fuhrpark die doppelte Anzahl an Lieferwagen, die neue Ware war höher gestapelt und jeder Quadratzentimeter dieses Raumes wurde benötigt. In diesen goldenen Zeiten wurden die Ständer und Regale des Kaufhauses durch eine Nachtschicht von Lagerhelfern aufgefüllt. In der derzeitigen Flaute ist keine Nachtschicht nötig. Das Auffüllen passiert während der Ladenöffnungszeiten. Nach Ladenschluss bleibt nur noch eine Person im Kaufhaus: das Phantom.
Harley führt Crispin auf einem gewundenen Weg zwischen den Lieferwagen und Kisten zur Nebentreppe für das Personal, die zu einem Vertriebsraum hinaufführt, von dem aus neue Ware auf Rollwagen an weit entfernte Punkte des Kaufhauses transportiert wird. Ein Lastenaufzug steht ebenfalls zur Verfügung, aber für den Jungen ist die Treppe sicherer.
Um diese Uhrzeit hält sich in dem Vertriebsraum im Erdgeschoss niemand auf. Da die Belegschaft, die für den Warenein- und -ausgang zuständig ist, schon weg ist, brennt hier nur noch das Licht über der breiten Tür, die zur Verkaufsfläche im Erdgeschoss des Ladens führt.
Zwischen den vielen Rollwagen und ungeöffneten Kartons gibt es zahlreiche Orte, an denen ein Junge und sein Hund einen sicheren Unterschlupf finden können. Sie verbergen sich hier bis um 21.32 Uhr, wenn aus jedem Lautsprecher der Beschallungsanlage eine monotone Stimme, ein integraler Bestandteil des Sicherheitssystems, ernst ankündigt: » Außenalarmanlage aktiviert .«
Das bedeutet, dass der letzte Angestellte, ein Wächter, das Gebäude durch die Tür verlassen hat, durch die Crispin von der Lieferantenzufahrt aus hineingekommen ist. Er hat die Alarmanlage für die Nacht eingeschaltet. Jede Außentür und jedes Fenster ist über Sensoren mit der Alarmanlage verbunden, und bei der geringsten Beschädigung wird die Polizei alarmiert.
In besseren Zeiten hat Broderick’s während der Nacht ein vierköpfiges Team von Wachleuten
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