Das Mondkind (German Edition)
italienische Küchenmesser, das ihre Mutter eine Mezzaluna nennt.
Dreißig Minuten später säbelt Daisy Jean Sims in der menschenleeren Toilette eines Busbahnhofs ihr langes Haar kurz. Sie schlüpft in eine Bluejeans, einen Pullover und ein Paar Turnschuhe.
In einem Supermarkt, der die ganze Nacht geöffnet hat, kauft sie Haarfärbemittel und ein paar andere Dinge. Noch vor dem Morgengrauen verwandelt sie in einer öffentlichen Toilette im Statler Park Blond in Rabenschwarz.
Das Gemetzel im Sims-Haus wird erst um Viertel nach zwei am folgenden Nachmittag entdeckt. Nach seinen blutigen Handabdrücken und einem einzigen Abdruck von einer Schuhsohle zu urteilen, hält die Polizei den Killer für einen großen Mann mit ungewöhnlich großen Händen und einer imposanten physischen Erscheinung. Da seine Abdrücke auch in Daisys Zimmer gefunden werden und da das Mädchen verschwunden ist, geht man davon aus, dass sie entführt wurde.
Sie verlässt sich darauf, dass ihr zotteliges schwarzes Haar für den Moment als ausreichende Verkleidung dient, und sucht die Zentrale der Stadtbücherei in der Hoffnung auf, dass die Stille, die dort herrscht, ihre Nerven beruhigen wird, aber sie hat auch die Absicht, ein paar Nachforschungen anzustellen.
Zuerst liest sie über prophetische Hellseherei nach, aber diejenigen, die über dieses Thema geschrieben haben, be handeln es im Allgemeinen als reine Fantasterei oder als eine Möglichkeit, die nur Gültigkeit besitzt, weil sie durch liberalere Auslegung von Jungs psychologischer Theorie vorhergesagt werden könnte, was auch immer das heißen mag. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die mit überschwänglicher Begeisterung darüber schreibt, doch das scheint ihr nichts weiter als ein billiger Versuch zu sein, Bücher an die Leichtgläubigen zu verkaufen.
Sie weiß, dass das, was sie gesehen hat, sobald sie die Schere in den Killer gerammt hatte, weder Fantasterei noch jungsches Dingsbums war. Es war die intensivste und wahrste Erfahrung ihres ganzen Lebens. Wenn sie als Daisy Jean Sims weiterlebt, wird er sie finden und töte n; und Menschen, die sie liebt, werden mit ihr sterben.
Nachdem sie die Bücher über Hellseherei zur Seite gelegt hat, stellt sie Nachforschungen über Namen, ihre Geschichte und ihre Bedeutung an. Ohne sich selbst erklären zu können, warum, ist sie der festen Überzeugung, dass sie ihren neuen Namen sorgfältig wählen muss, weil der richtige Name ihr Sicherheit geben wird und ein falscher sie angreifbar macht.
Als die Bücherei schließt, entscheidet sie, sich in Amity Onawa umzubenennen. Amity, vom lateinischen amicitia , bedeutet Freundschaft . Onawa, ein Wort aus der Sprache nordamerikanischer Indianer, bedeutet hellwaches Mädchen .
In ihrer neuen und furchtbaren Einsamkeit ist der Name Amity – Freundschaft – Ausdruck dessen, was sie zu geben und zu erhalten hofft. Und nach den grässlichen Erlebnissen der gerade erst vergangenen Nacht scheint sie aus einem lebenslänglichen Halbschlaf erwacht zu sein; sie ist jetzt so hellwach, wie es kein Mädchen je gewesen ist, hellwach für die Tatsache, dass die Welt gefährlicher und weitaus seltsamer ist, als ihr bisher jemals klar war.
Vor einem Monat ist sie vierzehn Jahre alt geworden.
Sie hat noch nicht um ihre Eltern oder um ihren Bruder geweint. Diese Tränen werden erst in drei Wochen fließen und dann wird es eine Flut sein.
Jetzt, über zwei Jahre danach …
Amity, die sich auch das Phantom von Broderick’s nennt, sitzt mit Crispin in einer Nische des Restaurants, isst ein leckeres H ähnchen sandwich und trinkt eine Coke. Sie ist sechzehn. Er ist zwölf und der Countdown läuft. In dem Alter der beiden ist ein Altersunterschied von vier Jahren eine abgrundtiefe Kluft, doch sie wird durch das Bewusstsein überbrückt, dass die Welt ein geheimnisvollerer Ort ist, als es sich die meisten Menschen eingestehen wollen.
Amity fragt: »Hörst du noch manchmal eine Stimme sagen, du könntest die Ereignisse ungeschehen machen und die beiden retten?«
»Manchmal. Ich höre sie, seit ich neun war. Jetzt bin ich fast dreizehn. Und ich weiß immer noch nicht, was das bedeutet.«
»Geburtstagskind«, sagt sie. »Morgen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ganze dreizehn«, sagt sie.
»Ich bin froh, hier zu sein.«
Harley schnauft unter dem Tisch.
»Dreizehn ist eine Glückszahl«, sagt sie.
Crispin nickt. »Das kann ich ihr nur raten.«
10
27. Juli, drei Jahre und vier Monate zuvor …
Crispin wacht um
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