Das Mondkind (German Edition)
sein sollte. Crispin erkennt jetzt, dass die vergangenen sechs Wochen wie ein Traum gewesen sind, durch den man sie gezogen hat, als reagierten sie auf unsichtbare Fäden, die an all ihren Gliedmaßen befestigt waren.
Crispin, hilf mir!
Das Gefühl, in einen Traum geraten zu sein, verstärkt sich noch mehr, als er feststellt, dass er vor der Tür des Schlafzimmers von Clarette und Giles steht, ohne gemerkt zu haben, dass er Mirabells Zimmer verlassen hat.
Seine Mutter und sein neuer Vater haben deutlich klargestellt, dass sie großen Wert auf ihre Privatsphäre legen und dass der Zutritt zu ihren Zimmern streng verboten ist. Bis jetzt hat Crispin nie überprüft, ob ihre Tür abgeschlossen ist. Er setzt es voraus, aber dem ist nicht so.
Lampen mit Schirmen aus Buntglas und aus geblasenem Glas verströmen ein so kräftiges Honiglicht, dass er es fast schmecken kann, und die samtenen Schatten erinnern ihn an einen Ort, den er nicht benennen kann und an den er keine klare Erinnerung hat, einen Ort, der irgendwie vor allem kam, was er jemals gekannt hat.
Unter all den großartigen Räumen in Theron Hall ist das hier der grandioseste. Das verwirrende und verzwickte Muster des farbenfrohen Perserteppichs scheint bei jedem Schritt, den er macht, behutsam an seinen Füßen zu ziehen, als könnte er ihn in sich aufsaugen, aber nicht nur in die Fäden, aus denen er geknüpft ist, sondern in sein Inneres und durch ihn hindurch , als könnte er eine geheime Pforte in eine andere Welt sein, die realer ist als diese hier.
Die Vorhänge scheinen so weich und ihr Faltenwurf ist so elegant, die Farben sind so reizvoll, die Fransen und Quasten so üppig, dass sich an ihnen kein Ausblick messen könnte, der durch die Fenster dahinter zu sehen wäre. Hier sind die Einrichtungsgegenstände von größerer Erhabenheit als irgendwelche gekrönten Häupter, und ein überladener Spiegel ist von einer so überwältigenden Tiefe, dass Crispin, als er an seinem Spiegelbild vorbeisieht, das Zimmer zu gewaltig erscheint, um überhaupt in Theron Hall Platz zu finden, denn es erstreckt sich bis in die Unendlichkeit.
Die Opulenz erschlägt ihn und ihm schwindelt fast, als er sein Augenmerk erneut auf die samtenen Schatten in den Ecken richtet, die ihn an einen Ort erinnern, an den er sich nicht erinnern kann, einen Ort, der vor allem kam, was er jemals gekannt hat. Aber diesmal enthüllt ihm eine fremde Stimme in seinem Kopf mit Worten, die er nie zuvor gehört hat und dennoch versteht, dass die Perfektion dieser Schatten die Dunkelheit des Mutterleibes ist, der ihn geboren hat. Wenn er den Wunsch verspürt, eine dieser Ecken zu betreten und den Schatten zu erlauben, ihn vollständig einzuhüllen, wenn er hier auf seine Mutter wartet, wird sie ihn bei ihrer Rückkehr wieder in sich aufnehmen und er wird wieder den Frieden erleben, den es bedeutet, ein Teil von ihr zu sein; mit der Zeit würde seine Entstehung rückgängig gemacht.
Seine Furcht um Mirabell verwandelt sich schlagartig in blankes Entsetzen, und die Furcht, die er bisher nicht um sich selbst verspürt hat, presst schließlich sein Herz zusammen.
Ohne die geringste Ahnung, wie er seine Schwester finden und ihr helfen könnte, flieht er aus dem Schlafzimmer der Suite seiner Eltern. Er rast durch den Flur zur nördlichen Treppe und rennt ihre Windungen hinunter.
Als er das Erdgeschoss erreicht, treibt ihn die Hoffnung an, dass irgendjemand im Haus ihm wird helfen wollen, dass sie sich nicht alle gegen ihn und seine Geschwister verbündet haben. Wenn nicht Minos, der Chefbutler, dann vielleicht Ned, der Juniorbutler. Wenn keiner von ihnen, dann vielleicht eine der Haushälterinnen. Nicht Proserpina! Doch vielleicht Mrs. Frigg, die Hausdame. Jemand wird ihm helfen wollen, einer von denen, die immer ein Lächeln für ihn haben und ihn mit Respekt behandeln.
Erst Wochen später geht Crispin auf, dass er auf seiner rasenden Suche nach einem Vertrauten und Beschützer nie auf den Gedanken kommt, das Haus zu verlassen und Hilfe bei jemandem auf der Straße zu suchen, vielleicht sogar bei einem Polizisten. Es scheint fast so, als sei er verhext, und dieser Zauber verhindert, dass er die Welt außerhalb von Theron Hall auch nur in Betracht zieht.
Er ringt um Atem, japst hektisch und kann doch im gesamten Erdgeschoss niemanden finden, weder in einem der allgemein zugänglichen Räume noch in der Küche. Niemand scheint bei der Arbeit zu sein und doch sind sämtliche Zimmer im
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