Das Mondkind (German Edition)
nach Nelken, doch bald verändert sich der Duft und wird zitronig.
Dieser Duft ist so außerordentlich intensiv und kommt so unerwartet, dass Crispin automatisch die Augen öffnet, und als er das tut, glaubt er zu hören, wie jemand seinen Namen sagt.
Das Wasser trommelt und plätschert auf den Marmorboden und sein ständiges Rauschen, das von den drei Glaswänden zurückgeworfen wird, erzeugt einen solchen Lärm, dass er es nicht hören würde, wenn jemand mit ihm spräche, es sei denn, derjenige würde schreien … oder er befände sich mit ihm in der Duschkabine. Diese Stimme ist kein Ruf, sondern ein Murmeln.
Das beißende Shampoo lässt die Dinge vor seinen Augen verschwimmen und die Dampfschwaden behindern ihn zusätzlich, aber als er sich umdreht und durch halb zusammen gekniffene Augen auf das Badezimmer außerhalb der Dusch kabine schaut, erhascht er den Blick auf eine verschwommene Gestalt, auf jemand, der ihn beobachtet. Schockiert über diese Verletzung seiner Privatsphäre wischt er sich mit beiden Händen die Augen, um die Seifenlauge aus seinen Wimpern zu reiben. Als er wieder klar sieht, ist da allerdings niemand. Er ist allein im Badezimmer, und der Besucher muss ein Hirngespinst gewesen sein, ein Produkt seiner Einbildung, durch das Licht und den Dampf vorgetäuscht.
Als er sich abgetrocknet hat und angezogen ist, fühlt er sich plötzlich ausgehungert. Er isst die frischen Erdbeeren mit Sahne, den englischen Muffin, das Croissant und das klebrige, süße Brötchen mit der Kruste aus Pekannusssplittern. Er trinkt den größten Teil des Kakaos, nimmt sich Zeit und genießt jeden einzelnen Schluck.
Er kommt fünfzehn Minuten zu spät zum Unterricht in der Bibliothek, aber Mr. Mordred erwartet ohnehin keine Pünktlichkeit.
Harley hat Neuigkeiten. »Mirabell hat aus Paris angerufen!«
Crispin tut diese Bemerkung mit einem geringschätzigen Kopfschütteln ab. »Sie kann noch nicht in Paris sein.«
»Ist sie aber«, beharrt Harley.
»Sie sind sehr früh aufgebrochen«, sagt Mr. Mordred, »aber sie sind tatsächlich noch nicht da. Mirabell hat aus Mr. Gregorios Privatflugzeug angerufen, sie waren irgendwo über dem Atlantik.«
»Sie sitzt in einem Jet! «, sagt Harley, den der Gedanke fasziniert. »Sie sagt, es wäre supertoll.«
»Bist du sicher, dass es Mirabell war?«, fragt Crispin seinen Bruder.
»Natürlich war sie das.«
»Woher weißt du das – nur, weil sie es gesagt hat?«
»Sie war es. Ich kenne Mirabell doch.«
Harley ist sieben und leichtgläubig. Crispin ist neun und hat das Gefühl, nicht nur zwei Jahre reifer zu sein als sein kleiner Bruder, sondern drei oder vier oder zehn. »Und warum hat sie mich nicht angerufen?«
»Weil sie mit mir reden wollte«, sagt Harley voller Stolz.
»Sie würde auch mit mir sprechen wollen.«
»Aber du hast noch geschlafen oder dein Frühstück verdrückt oder was auch immer«, sagt Harley.
»Ich bin sicher, dass sie mit dir sprechen möchte, wenn sie das nächste Mal anruft«, beteuert Mr. Mordred Crispin. »Also, womit sollen wir heute anfangen? Soll ich euch eine Geschichte vorlesen, oder soll ich euch Kopfrechnen beibringen?«
Harley zögert nicht. »Lesen!«, ruft er. »Lesen Sie uns eine Geschichte vor.«
Während Mr. Mordred eine Auswahl aus mehreren Büchern trifft, starrt Crispin das Muttermal in Form einer Pferdebremse auf seiner linken Schläfe an. Er meint, gesehen zu haben, wie es sich ein klein wenig bewegte. Aber jetzt bewegt es sich nicht.
11
Beim Abendessen am 3. Dezember, dem Vorabend von Crispins dreizehntem Geburtstag …
Amity Onawa, ehemals Daisy Jean Sims, auch als das Phantom von Broderick’s bekannt, hat zum Nachtisch einen Teller mit Teegebäck auf den Tisch gestellt. Es ist schmackhaft, aber nicht zu fett.
Der Hund bettelt, bekommt etwas und legt sich wieder hin, um zu schlafen.
Mit ihrem schwarzen Haar, den unwiderstehlichen blauen Augen und der Aura geheimen Wissens sieht das Mädchen aus wie eine Zigeunerin, die im nächsten Moment im flimmernden Kerzenschein die Zukunft vorhersagen wird.
»Also, Crispin Gregorio.«
»So heiße ich nicht.«
»Crispin Hazlett.«
»Das ist der Name, den meine Mutter benutzt hat.«
»Und du hast ihn nie benutzt?«
»Früher, aber inzwischen nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Ich habe nie einen Mann gekannt, der Hazlett hieß.«
»Und wie heißt du dann – einfach nur Crispin?«
»Richtig.«
»Du reist wohl mit leichtem Gepäck, was?«
»Ein Name
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