Das Mondkind (German Edition)
genügt.«
»Also, Crispin, da du morgen Geburtstag hast – was wünschst du dir zum Abendessen?«
»Ist mir egal. Es spielt keine Rolle.«
»Alles spielt eine Rolle«, widerspricht sie ihm.
Er zuckt die Achseln.
Amity legt den Kopf zurück und fragt: »Hast du deine Spielkarten noch?«
»Dasselbe Kartenspiel«, bestätigt er, »das ich an dem Abend gekauft habe, an dem ich und Harley uns begegnet sind.«
»Machst du damit noch, was du früher gemacht hast?«
»Nur dazu ist es da.«
»Hast du die vier Sechsen schon eine nach der anderen aufgedeckt?«
»Noch nicht.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du bist seltsam, Junge.«
Lächelnd sagt er: »Nicht nur ich.«
Mit dem kleinen Bündel zusammengerollter Geldscheine und den acht Goldmünzen, die sie dabeihatte, als sie vom Schauplatz der Morde floh, hat Amity viele Monate auf der Straße gelebt. Sie hat sich tough angezogen, sich tough benommen, und mit der Zeit ist sie tough geworden …
In jenem Jahr lernt sie viele Dinge, darunter auch, wie man sich eine neue Existenz verschafft. Jede Form von Dope lässt sich auftreiben, und an gefälschte, aber hochwertige Papiere ist nicht schwerer ranzukommen als an Hasch oder Koks. Sie hat kein Interesse an Drogen, aber sie ist entschlossen, Amity Onawa zu einer ebenso realen Person zu machen, wie Daisy Jean Sims es früher einmal war.
Mit der Zeit gelangt die Polizei zu dem Schluss, dass die vermisste Daisy tot sein muss, und für Amity ist sie sowieso gestorben. Erinnerungen an ihr früheres Leben nachzuhängen wäre zu schmerzhaft, um es zu ertragen – und es ist gefährlich. Ihr hellseherischer Moment mit der Schere kehrt manchmal in Träumen wieder, und sie ist weiterhin der Überzeugung, dass jede Kontaktaufnahme zu Verwandten oder auch nur zu alten Freunden ihren und deren Tod bedeuten würde.
Nachdem sie sechs Monate lang in einem Schlafsack auf dem Boden geschlafen hat – in Parks, in Nebenräumen von Kirchen, unter Brücken – benutzt sie einen gefälschten, aber überzeugenden Führerschein und eine gefälschte Sozialversicherungskarte, um eine winzige Studentenwohnung mit einer Kochnische und einem klitzekleinen Bad zu mieten. Sie muss täglich duschen und frische Sachen anziehen können, wenn sie einen Job finden und ihn behalten will.
In der heutigen Welt geht es drunter und drüber und Jobs sind rar; aber wenn man weiß, wie man das Meiste aus dem System rausholt, wirft die Arbeitslosenhilfe sogar mehr ab als ein Job. Die meisten Leute, die auf der Straße leben, sind, soweit sie sie bisher kennt, Gauner, und ihr liebstes Opfer ist das eine oder andere Programm des Ministeriums für Gesundheit und Sozialwesen, bei dem sich mit List und Tücke mehr als nur eine Einkommensquelle anzapfen lässt.
Amity ist jedoch ein hellwaches Mädchen. Sie weiß, dass Abhängigkeit nur ein anderes Wort für Sklaverei ist. Außerdem ist es, wenn man sich auf lange Sicht darauf verlässt, dass Uncle Sam einen schon irgendwie mitschleift, so, als erwarte man, in einem Meer aus Treibsand Halt zu finden.
Ihren ersten Job bekommt sie in einem Lokal, das ziemlich gute mediterrane Küche serviert; dort verbringt sie drei Stunden täglich damit, Gemüse zu waschen und es kleinzuschneiden, gefolgt von drei Stunden, in denen sie während der Mittagessenszeit beim Auftragen hilft und die Tische abräumt. Schon bald wird sie befördert. Sie macht jetzt Salate und richtet sie auf Tellern an und übernimmt noch eine Menge anderer Aufgaben in der Küche.
Als sie sich um eine freie Stelle im Eleanor’s bewirbt, dem Restaurant des Kaufhauses Broderick’s, wird sie sofort eingestellt. Sie ist erst fünfzehn, aber in ihren Papieren steht, dass sie in sechs Monaten achtzehn wird. Durch ihre Zeit auf der Straße strahlt sie Erfahrung aus, und sie kann jedem länger in die Augen schauen, als andere ihrem Blick standhalten.
Mit der Zeit erkennt sie, dass Broderick’s ihr unter Umständen mehr als einen Job zu bieten hat. Das Kaufhaus kann auch ein Zuhause sein und mehr als das – eine sichere Zuflucht.
Jeder Angestellte hat einen persönlichen Spind mit einem Zahlenschloss in der Herren- oder der Damenumkleide im Erdgeschoss. Hier bewahrt sie ihr Portemonnaie und bei schlechtem Wetter Mantel, Schal, Handschuhe und Gummi stiefel auf. Viele deponieren auch ihr mitgebrachtes Mittagessen in ihren Spinden, aber zu den Sondervergünstigungen der Belegschaft von Eleanor’s gehört es, dass Amity nach dem Ansturm um die Mittagszeit in
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