Das Mondkind (German Edition)
Quadratmetern zur Verfügung, bestimmt das größte Zuhause auf der ganzen Welt, und je länger sie ohne Zwischenfälle hier wohnt, desto leichter kann sie sich glauben machen, dieser Ort sei nicht nur ein Zuhause, sondern auch eine Festung.
Als sich Crispin zum ersten Mal kurz vor Ladenschluss mit seinem Hund ins Broderick’s schlich, hätte er die Nacht vielleicht nicht gefahrlos überstanden, ohne Alarm auszulösen oder auf dem Weg hinaus geschnappt zu werden. Dank Amity Onawa weiß er jetzt, wie er fast so verstohlen kommen und gehen kann wie der Geist einer neunmal toten Katze.
Und jetzt sind sie beide hier, seit fast einem Jahr miteinander befreundet, und abgesehen von Harley ist jeder der einzige Vertraute des anderen …
Als sie das letzte Gebäck aufessen, sagt Amity: »Vor ungefähr zwei Wochen habe ich deine Mutter mit ein paar anderen Frauen Tee trinken sehen.«
»Was … hier?«
»An dem Tisch dort«, sagt sie und deutet hin.
»Ich dachte, du arbeitest in der Küche.«
»Wenn eine Kellnerin in letzter Minute absagt und die Schicht nicht komplett ist, übernehme ich jetzt manchmal ihre Tische.«
»Was hältst du von ihr?«
»Sie ist noch schöner als auf den Fotos. Und sehr selbstsicher.«
»Bedien sie nie wieder«, warnt Crispin. »Wenn man einem von ihnen in irgendeiner Weise zu Diensten ist … also, ich glaube, dann zappelt man irgendwie schon am Haken. Sie können dich einholen, als seist du ein Fisch an der Angel, und dich dazu bringen, ihnen finstere Dienste zu erweisen.«
»Ich glaube nicht, dass ich ihnen so leicht auf den Leim gehen würde. Und überhaupt bezweifle ich, dass ich jemals wieder Gelegenheit haben werde, sie zu bedienen. Jedenfalls bestimmt nicht allzu bald. Ich habe gehört, wie sie den anderen Frauen erzählt hat, sie und dein Stiefvater würden am nächsten Tag nach Rio fliegen, wo er ein Haus hat, und sie würden längere Zeit dortbleiben.«
»Ich nehme an, ihre Kinder hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
»Sie hat gesagt, du, Harley und Mirabell, ihr würdet euch in Internaten in London gut machen.«
»Na toll«, sagt Crispin mürrisch.
»Wirst du sie jemals zur Rede stellen?«
»Sie würde mich umbringen, sowie sie mich sieht.«
»Oder du sie.«
»K önnte sein.«
»Dann steht Theron Hall jetzt leer?«
»Ein paar Hausangestellte werden trotzdem da sein, drei oder vier.«
»Aber das Haus wird weitgehend leer stehen«, beharrt Amity.
Crispin zieht es vor zu schweigen.
»Du hast einmal zu mir gesagt, dort sei etwas passiert, was du besser verstehen müsstest. Du müsstest hingehen und dir etwas noch einmal ansehen.«
»Noch nicht.«
Wann dann?«
»Wenn die Karten mir sagen, dass es gefahrlos ist.«
»Hast du die Karten in der letzten Zeit befragt?«
»Nein.«
»Fürchtest du dich?«
»Jeder sollte sich fürchten.«
Nach langer Zeit sagt Amity: »In der Spielwarenabteilung gibt es eine coole Dekoration. Da ist ein Ausstellungsstück dabei, das du dir ansehen musst.«
Als Amity aus der Nische aufsteht, sagt Crispin: »Du meinst, jetzt gleich?«
»Ich wusste nicht, dass dein Terminkalender für heute Abend schon voll ist.«
Er steht auf, um ihr zu folgen, und sie deutet auf die Wand mit den hohen Fenstern. »Sieh mal. Schnee. Wie schön.«
Mit dem Hund zwischen sich durchqueren sie den Raum und bleiben vor den riesigen Glasscheiben stehen.
Von den ersten Flocken ist jede so groß wie ein Silberdollar, und sie sehen so weich aus wie kleine Kissen. Frau Holle schüttelt ihr Bettzeug über einer Stadt aus, die Schlaf sucht, und kristalline Gänsedaunen wirbeln durch die Dun kelheit, durch die Million schwacher Nachtlichter einer Zivilisation, die stets nur ein Morgengrauen von ihrer Auslöschung entfernt ist.
12
Crispin ist neun und steht in der Folge von Mirabells Verschwinden nach Paris unter dem Einfluss eines bösen Zaubers …
Erst viel später wird er sich als verhext betrachten, aber ob das nun die Wahrheit über seinen Zustand ist oder nicht – den August und den September jenes Jahres verbringt er jedenfalls in einer seltsam teilnahmslosen Verfassung und hat für einen Jungen seines Alters wenig Energie.
Er liest Bücher, die ihm Spaß machen, kann sich aber bereits Tage später kaum noch an die Geschichten erinnern.
Er spielt Brett- und Kartenspiele mit Harley, aber ihm ist egal – und er erinnert sich auch nicht daran –, wer gewinnt.
Er schläft viel, hängt dann, wenn er nicht schläft, Tagträumen nach und findet sich in
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