Das Mondkind (German Edition)
Eingeständnis seiner Ergebenheit hört, sagt sie: »Schlafe den Schlaf«, und Harley sinkt augenblicklich bewusstlos auf seine Kissen zurück. Im ersten Moment glaubt Crispin, dass sich sein Bruder schlafend stellt, aber er spielt ihr nichts vor. Zu dem Jungen, der sie jetzt nicht mehr hören kann, sagt Nanny Sayo: »Ferkel«, doch diesmal ohne jede Spur von Zuneigung, und ihre Stimme lässt Crispin frösteln. In dem Traum hatte er die Tür zu Harleys Schlafzimmer geöffnet und Nanny hatte nicht bemerkt, dass er hinter ihr stand. Jetzt schließt er sie leise.
Während der September auf den Oktober zugeht, erinnert sich Crispin ab und zu an diesen kleinen Albtraum, und manchmal glaubt er, dass es eine Szene aus dem wirklichen Leben war, bevor er sie geträumt hat, dass er tatsächlich dazukam, als Nanny Harley gekitzelt hat. Vielleicht hat er den eigentlichen Vorfall vergessen und behält ihn lieber als einen Traum in Erinnerung, weil der wirkliche Moment zu beunruhigend war, um darüber nachzudenken. Aber das kommt ihm unwahrscheinlich vor.
Tag für Tag verbringt er mehr Zeit allein, was zum Teil daran liegt, dass Harley sich eine Geschichte über kleine Leute ausgedacht hat, die in dem Haus leben und ebenso wenig zu fassen sind wie die Katzen. Tatsächlich sind die weißen Katzen inzwischen für Harley zu »kleinen Kätzchen« geworden, obwohl er vorher nie gesagt hat, sie seien klein. Ein Siebenjähriger kann für seinen älteren Bruder zwangsläufig von Zeit zu Zeit ein lästiges Ärgernis darstellen, und es ist eine dieser Phasen.
Am 29. September, dem Fest der Erzengel, mehr als zwei Monate, nachdem Mirabell mit dem Butler Minos und Mrs. Frigg nach Frankreich geflogen ist, fährt Crispin mit einem Entsetzensschrei im Bett hoch, doch dieser Albtraum, welcher Natur auch immer er war, zerfließt und rinnt aus seinem Gedächtnis, sowie er sich wachblinzelt.
Im Laufe des Vormittags wächst sein Grauen stündlich. Er hat das Gefühl, dass er zwar aus dem Traum erwacht ist, aber in gewissem Sinne immer noch im Tiefschlaf liegt und sich aus einem Wachtraum, dem er sich zu lange hingegeben hat, wachrütteln muss.
Er frühstückt und isst zu Mittag, aber das Essen schmeckt nach fast nichts.
Er versucht zu lesen, aber die Geschichte langweilt ihn.
Er stellt fest, dass er im Nähzimmer steht und die Stelle anstarrt, an der er seine Mutter und Proserpina dabei ertappt hat, wie sie sich geküsst haben. Er weiß nicht, wie er hierhergekommen ist.
Er steht an einem Fenster der Bibliothek und beobachtet den Verkehr auf der Shadow Street. Als seine Beine zu schmerzen beginnen und er einen Blick auf seine Armbanduhr wirft, stellt er erstaunt fest, dass er über eine Stunde wie in Trance dagestanden hat.
Alle Hausangestellten, denen er begegnet, scheinen ihn mit mühsam unterdrückter Belustigung anzusehen und er gelangt zu der Überzeugung, dass sie hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.
Kurz vor drei spricht eine Stimme in seinem Kopf von dem Miniaturenzimmer. Ihm wird klar, dass ihm diese Stimme schon den ganzen Morgen über etwas zugeraunt hat, aber er hat es abgelehnt, sich von ihr leiten zu lassen.
Von der Überzeugung durchdrungen, dass er alles daransetzen muss, klammheimlich vorzugehen, und dass niemand wissen darf, wo sie ihn finden können, schüttelt er zunächst sämtliche Dienstboten ab. Und dann, als er sicher ist, dass er nicht beobachtet wird, macht er sich über die am seltensten benutzte Treppe auf den Weg in den zweiten Stock.
Das riesige maßstabsgetreue Modell von Theron Hall ragt über ihm auf. Nie zuvor ist ihm diese hervorragend gearbeitete Miniatur verhängnisvoll erschienen, doch jetzt wirkt sie so bedrohlich wie das schlimmste Spukhaus in dem gruseligsten Film, der jemals gedreht wurde. Er rechnet fast damit, dass sich Gewitterwolken unter der Decke bilden und dass Donner von einer Wand zur anderen grollt.
Erst beabsichtigt er, die Leiter hinaufzusteigen und sich das Gebäude von der obersten bis zur untersten Etage anzusehen. Aber seine Intuition – oder etwas Stärkeres und Persönlicheres – zieht ihn zur Nordseite, wo er sich etwas bücken muss, um durch das Fenster an diesem Ende des Hauptflurs im Erdgeschoss blicken zu können.
Als er das Zimmer betreten und die Deckenbeleuchtung eingeschaltet hat, sind auch sämtliche Lichter in dem Modell angegangen: kunstvolle Kronleuchter aus Kristallglas mit einem Durchmesser von fünfundzwanzig Zentimetern, die in dem wirklichen Haus einen
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