Das Mondkind (German Edition)
bewundert Mr. Mordred dafür, dass er Gründe findet, sich über diese Entstellung sogar zu amüsieren.
Eines Tages, drei Wochen nach der Hochzeit, verbringen Crispin, Harley und Mirabell ein paar Stunden bäuchlings auf dem Fußboden der Bibliothek mit stapelweise neuen Bilderbüchern und Unmengen von coolen Comics, die Giles für sie gekauft hat. Als sie sich endlich langweilen, sammelt Nanny Sayo den verstreuten Lesestoff auf, um ihn auf einem Tisch zu deponieren.
Dabei kommt es dazu, dass Crispin sich umdreht und unversehens über der Frau steht, die dort kniet, um die verstreuten Comics aufzuheben. Er blickt in den Ausschnitt ihrer Bluse und sieht dort auf der Wölbung einer Brust ein Muttermal, das mit dem auf Mr. Mordreds Stirn identisch ist.
Als sei sie sich seiner Aufmerksamkeit bewusst, hebt Nanny Sayo den Kopf. Crispin wendet sich verlegen ab, ehe ihre Blicke sich begegnen können.
Obwohl er erst neun ist, ist es ihm peinlich, dass er ihre Brüste angestarrt hat, deren Anblick ihn auf eine neue und verstörende Art und Weise, die er nicht näher bestimmen kann, aufgewühlt hat. Sein Gesicht glüht. Sein Herz schlägt so heftig, dass er glaubt, Nanny Sayo müsse es hören.
Später im Bett fragt er sich, wie Mr. Mordred und Nanny Sayo dasselbe Muttermal haben können. Vielleicht ist das etwas Ansteckendes, wie ein Schnupfen oder die Grippe.
Nanny Sayo tut ihm leid, obwohl sie das entstellende Mal wenigstens an einer Stelle hat, an der es nicht so gut sichtbar ist wie bei Mr. Mordred.
In jener Nacht träumt er von Nanny Sayo, die nackt im Feuerschein tanzt. Sie hat mehrere Muttermale in Form von Pferdebremsen, nicht nur eines, und sie haben keinen festen Platz. Sie kriechen über ihre Haut.
Crispin wacht am Morgen mit Fieber auf und wird von Übelkeit und Muskelschmerzen geplagt.
Seine Mutter sagt, er hätte sich nur ein Virus eingefangen. Antibiotika w ü rden ihm nicht helfen, es abzuwehren. Er soll ein oder zwei Tage im Bett bleiben, bis es vorübergeht. Sie sieht keine Notwendigkeit, einen Arzt zu rufen.
Im Lauf des Tages liest Crispin, hält kurze Nickerchen und liest dann weiter. Das Buch ist eine Abenteuergeschichte, die auf dem Meer und verschiedenen tropischen Inseln spielt.
Obwohl der Autor einen leichten Tonfall beibehalten und die jungen Hauptpersonen nie Gefahren ausgesetzt hat, denen sie nicht gewandt entrinnen könnten, und obwohl keine der Figuren in dem Roman Crispin oder Harley oder Mirabell heißt, blättert er kurz vor der Abenddämmerung die letzte Seite um und liest folgenden Satz: Und so wurden die kleinen Bastarde geschlachtet, zuerst Mirabell und dann Harley und als Letzter von ihnen der junge Crispin, abgeschlachtet und der Verwesung preisgegeben, damit sich Ratten und Vögel mit scharfen Schnäbeln an ihnen laben konnten.
Ungläubig liest Crispin den Satz noch einmal.
Sein Herz rast und er stößt einen Schrei aus, aber der Schrei erstirbt größtenteils in seiner Kehle. Er lässt das Buch fallen, wirft die Decke von sich und springt aus dem Bett. Als er auf den Füßen steht, wird er von Schwindel überwältigt. Er wankt ein paar Schritte und bricht dann zusammen.
Als er das Bewusstsein wiedererlangt, weiß er, dass nur wenig Zeit vergangen ist, weil die vorhin bevorstehende Dämmerung gerade erst eingesetzt hat. Der Himmel hinter den Fenstern ist violett und drückt gegen einen roten Horizont.
Der Schwindel ist vorüber, aber er fühlt sich schwach.
Er zieht sich auf die Knie, nimmt das Buch vom Bett und wagt es, die letzte Seite noch einmal zu lesen. Die Wörter, die er dort vorhin gesehen hat, sind verschwunden. Mirabell, Harley, Crispin, Abschlachten, Ratten oder Vögel mit scharfen Schnäbeln werden mit keiner Silbe erwähnt.
Mit zitternden Händen schließt er das Buch und legt es auf den Nachttisch.
Während er wieder ins Bett kriecht, fragt er sich, ob eine Wahnvorstellung, vom Fieber ausgelöst, die Worte auf der Seite vor ihm hat erscheinen lassen. Erst ist er eher besorgt als ängstlich, dann eher verwirrt als besorgt und schließlich erschöpft.
Ein Frösteln überkommt ihn. Er zieht sich die Decke bis ans Kinn hoch.
Als Nanny Sayo einen Servierwagen mit einem Tablett, auf dem sein Abendessen steht, ins Zimmer rollt, hat Crispin anfangs vor, ihr von den bedrohlichen Wörtern in dem Buch zu erzählen. Aber es ist ihm peinlich, dass er derart über etwas erschrocken ist, was sich am Ende als reine Einbildung erwies.
Er will nicht, dass Nanny Sayo
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