Das Monster von Bozen
Achatz’ Kopf vorsichtig auf den Fels und stand auf. Wimmernd hielt sie sich die Hände vors Gesicht, ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Mantinger nahm sie in den Arm und sprach beruhigend auf sie ein.
Das EKG zeigte eine Nulllinie. Der Dottore legte Achatz zwei Finger an den Hals und schüttelte den Kopf. »Mein lieber Mann …« Zu einem der Sanitäter sagte er: »Battista, eine Adrenalinspritze, avanti, und bereiten Sie den Defibrillator vor.«
»Was ist los?«, rief Mantinger. »Nun reden Sie schon!« Dottore Tadini beachtete ihn nicht. »Verdammt, das habe ich so noch nicht erlebt. Das gibt es doch gar nicht! Los, Battista, setzen Sie den Defi an. Machen Sie schon! Schnell!« Dann blickte er in die Runde. »Erzählen Sie mir, was passiert ist. Und vor allem wann, jedes Detail. Pronto! «
Gemini und Franco waren am ruhigsten geblieben. Sie berichteten dem Arzt so genau wie möglich, dass Achatz im Aufstieg erstmals über Schmerzen, Halluzinationen und Atemnot geklagt und wie sich sein Zustand oben dann sehr schnell verschlechtert hatte.
Achatz’ Brust bäumte sich unter den Elektroschocks des Defibrillators auf, aber er schien nicht zu reagieren. »Los, in den Hubschrauber mit ihm. Wer hat angerufen? Sie? Geben Sie mir Ihre Nummer. Steigen Sie ab, fahren Sie nach Hause, wir rufen Sie an.« Die Rettungsassistenten hatten Achatz auf eine Trage gelegt und brachten ihn im Laufschritt zum Helikopter. Tadini sprang eilig hinterher. Der Hubschrauber hob ab und verschwand in Richtung Bruneck.
Verstört sahen die Kollegen dem Hubschrauber nach, bis er hinter dem Fernerköpfl verschwunden war. Dann folgten sie Mantinger zurück zum Abzweig ins Ursprungtal. In den ersten Minuten sprachen sie noch aufgeregt durcheinander, dann wurden sie immer schweigsamer. Sabrina Parlotti hatte aufgehört zu weinen, aber ihre Augen waren geschwollen, sie sah elend aus.
Nach zwei Stunden hatten sie den Parkplatz des Hotels erreicht. Auf der Rückfahrt nach Bozen sprachen sie kein Wort. Als sie sich verabschiedeten, sagte Mantinger in beruhigendem Tonfall: »Tadini ruft bestimmt heute noch an, um mitzuteilen, dass es Arthur wieder besser geht. Wir haben schließlich sofort reagiert. Ich gebe euch auf jeden Fall sofort Bescheid.«
***
Vincenzo Bellini und Hans Valentin hatten die Aktion von ihrem Aussichtsplatz auf dem Schneebiger Nock verfolgt. »Dass die tatsächlich auf dieser kleinen Platte gelandet sind«, sagte Valentin. »Sie heben schon wieder ab! Was immer passiert ist, eine Lappalie ist das nicht.«
»Vielleicht Herzinfarkt?«, meinte Vincenzo. Mit einem Nicken machte sich Valentin daran, den Rucksack zu packen, die Lust auf das Picknick war ihnen vergangen. In diesem Moment schwebte der Hubschrauber auf Augenhöhe an ihnen vorbei, und sie konnten für einen kurzen Moment erkennen, wie sich drei Männer in Kitteln über jemanden beugten. Sekunden später war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Sie sahen sich betreten an. »Das sieht nicht gut aus. Komm, Vincenzo, wir brechen auf. Wir haben ein Stück Klettersteig in der senkrechten Wand vor uns, und zwar runter, das ist ziemlich anspruchsvoll. Konzentrier dich gut. Versuch nicht an das zu denken, was du gerade erlebt hast. Nach dem Klettersteig kommt dann einfaches Wandergelände.«
4
Bozen, Montag, 22. Juni
Vincenzo grüßte Paolo Verdi mit einem Kopfnicken. Der kleine, untersetzte Mann arbeitete seit zwölf Jahren am Empfang der Questura und war damit zufrieden. Er hatte keinen beruflichen Ehrgeiz, verbrachte am liebsten so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie. Ihm waren die geregelten Dienstzeiten im Polizeiinnendienst lieber als der Karrierepfad eines Commissario mit Wochenendeinsätzen, Nachtschichten und der permanenten Gefahr, eine unglückliche Witwe mit drei kleinen Kindern zu hinterlassen. Diese bescheidene Einstellung war einer der Gründe, warum Paolo Verdi in der Questura beliebt war. Er war ein freundlicher und gutmütiger Zeitgenosse, hatte immer ein offenes Ohr, wenn ein Kollege sich ihm mit seinen Problemen anvertraute.
Mit Vincenzo hatte er einen Deal. Er bekam, so oft er wollte, Tipps, was er mit seiner Familie in den Bergen unternehmen konnte, ohne sie zu überfordern. Dafür legte er ihm jeden Morgen seine eigene Ausgabe der Dolomiten – Tagblatt der Südtiroler auf den Schreibtisch. Von einer Vorahnung getrieben, beugte sich Vincenzo über die Zeitung. Schon auf der ersten Seite sprang ihm eine Schlagzeile ins
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