Das Monster von Bozen
setzen Sie sich doch! Sie machen mich ganz nervös. – Danke. Also, zunächst einmal konnten wir den Aufprallwinkel berechnen. Wenn sich zwei Autos auf derselben Spur begegnen, wenn also beispielsweise das Opfer auf die Gegenspur gekommen wäre, weil es zu schnell war, dann hätten wir einen sehr spitzen Aufprallwinkel. Ungefähr so.« Reiterer stieß spitz mit der einen Hand auf die andere. »Das ist hier aber nicht der Fall.«
Trotz Reiterers gestenreicher Erklärung verstand Vincenzo nicht, worauf er hinauswollte. »Können Sie mir das bitte genauer erklären?«
»Als der Pajero den Z3 getroffen hat, befand er sich beinahe im rechten Winkel zur Fahrbahn, mit der Schnauze fast schon in Richtung Abgrund. Mit anderen Worten, als der bullige, schwere Pajero den BMW gerammt hat, war der kleine, leichte Sportwagen längst ins Schleudern geraten und von der Fahrbahn abgekommen. Stellen Sie sich vor, dass Sie nachts vom Penegal Richtung Pass fahren. Plötzlich kommt Ihnen ein Fahrzeug entgegen, dass wild hin- und herschleudert. Das würden Sie bereits vor der Kehre allein aufgrund der hektischen Scheinwerferbewegungen bemerken. Können Sie sich vorstellen, dass Sie dann trotzdem noch mit diesem Fahrzeug zusammenstoßen würden?«
Vincenzo begriff allmählich, dass er seiner Mutter wohl einigen Kummer machen würde. »Wollen Sie damit andeuten, dass das Absicht war, Signor Reiterer? Vorsatz?«
»Das ist nicht auszuschließen. Was hinzukommt: Wir konnten nirgendwo Bremsspuren entdecken, die zu einem Pajero passen. Dafür haben wir nahezu auf Höhe des Kurvenknicks Reifenabriebspuren entdeckt, die auf ein abruptes Anfahren hindeuten. Wenn man bedenkt, dass Panzini bergauf gefahren ist, muss der Fahrer des Pajero sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein. Der ist nicht blind drauflosgefahren, nein, der hat diesen Aufprallwinkel berechnet. Der wusste genau, was er tat!«
Für Vincenzo bedeutete dies den ersten Mordfall in eigener Verantwortung. Hin- und hergerissen zwischen einer gewissen Aufregung über diese Herausforderung und einem schlechten Gewissen, weil er so aufgeregt war – immerhin war ein Mensch zu Tode gekommen –, marschierte er geradewegs in Baroncinis Büro. Er berichtete ihm von den Erkenntnissen der Spurensicherung.
Der Vice-Questore rieb sich den kurzen, gepflegten Bart. »Ich habe so etwas geahnt. Nach einem Unfall sah das in der Tat nicht aus. Sie werden die Ermittlungen in diesem Fall leiten. Mit Ispettore Marzoli bilden Sie ein Zweierteam. Alle kleineren Fälle, die Sie derzeit bearbeiten, geben Sie ab. Ich erwarte, dass Sie mich über jede neue Entwicklung auf dem Laufenden halten. Seien Sie sich bewusst: Mordfälle sind für eine Touristenregion grundsätzlich schlecht. Der Capo della Polizia und der Bürgermeister werden mächtig Druck machen. Von der Presse ganz zu schweigen.«
Auf dem Rückweg in sein Büro wurde Vincenzo klar, dass ihm der Vice-Questore eine große Verantwortung übertragen hatte. Es gab dienstältere, erfahrenere Kollegen in der Questura, aber er sollte die Ermittlungen leiten. Nachdem seine bisherigen Fälle ihn eher unterfordert hatten, bekam Vincenzo damit eine große Chance.
Es war ein Vertrauensbeweis, zugleich jedoch die unausgesprochene Aufforderung, sich hundertprozentig auf den Fall zu konzentrieren. Die Verantwortung war unerwartet gekommen, sie konnte seine Karriere in der Questura nachhaltig beeinflussen, und das verunsicherte ihn ein wenig. Aber sie war, so wie sein Klettersteig zur Schwarzensteinhütte, genau die Herausforderung, auf die er gewartet hatte.
Er griff zum Hörer. »Marzoli, ich komme vom Vice-Questore. Sie haben von dem Unfall am Penegal gehört?«
»Ja, Commissario, und?«
»Nun, es war kein Unfall. Bitte kommen Sie in mein Büro. Dann erkläre ich es Ihnen.«
Der gewichtige Giuseppe Marzoli ließ sich mit seinen stattlichen hundertfünfzehn Kilo auf Vincenzos filigranen Freischwinger plumpsen, der dabei bedrohlich knarrte. Marzoli war ein leidenschaftlicher Esser. Das betraf vor allem die Menge. Er war dabei keineswegs im eigentlichen Sinne fett, sondern insgesamt von recht massiver, kräftiger Statur. Seine sanften braunen Augen standen dazu in einem bemerkenswerten Gegensatz. Nachdem Vinzenco ihn unterrichtet hatte, erläuterte er ihm, dass sie fortan ein Ermittlungsteam bilden würden.
»Mein Gott«, sagte Marzoli, »ausgerechnet Mord …« Sehnsüchtig blickte er zu den Cantuccini, die wie immer auf Vincenzos Schreibtisch
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